Kommentar Zu welchem Preis? Wie der VAR dem Fussball die Seele raubt

Von Tobias Benz

24.2.2020

Umstrittene Entscheidung: Alain Bieri zeigt in der Schlussphase zweimal auf den Punkt.
Umstrittene Entscheidung: Alain Bieri zeigt in der Schlussphase zweimal auf den Punkt.
Bild: Keystone

St. Gallen und YB liefern sich im ausverkauften Kybunpark das Spiel des Jahres. Trotz hochstehenden Fussballs beider Mannschaften bleibt zum Schluss irgendwie ein fahles Gefühl zurück. Wollen wir das?

Die Nachspielzeit beim Spitzenkampf zwischen St. Gallen und YB ist eigentlich bereits abgelaufen. Aber Schiedsrichter Alain Bieri lässt den Bernern noch eine letzte Chance auf den Ausgleich. Und es wird richtig heiss: Nach einer Flanke in den Strafraum blockt FCSG-Verteidiger Miro Muheim den Ball mit dem Arm – gibt’s Penalty? Nein. Alain Bieri lässt die Szene weiterlaufen und das Heimteam klärt den Ball erfolgreich. Aber im Kybunpark kann sich niemand so richtig darüber freuen. Denn jeder weiss: Die Entscheidung muss zuerst noch den VAR-Test bestehen.

Eines soll Bieri an dieser Stelle gutgeheissen werden: Er versucht, die Überprüfung so kurz wie möglich zu halten. Trotzdem dauert es eineinhalb Minuten, bis eine Entscheidung gefällt ist. Nervöses Warten anstatt Freudentaumel im Kybunpark. Niemand ausser dem Schiedsrichter kann sich die Szene nochmals anschauen, die Bildschirme im Stadion bleiben schwarz. Keiner weiss Bescheid. Und dann gibt’s Elfmeter.



Die Ernüchterung ist gross. Anstatt des erhofften Schlusspfiffs hat der Gegner aus Bern nun beste Chancen auf den Ausgleich. Aber die Hoffnung bei Grün-Weiss ist noch nicht gestorben. Immerhin steht der neue Publikumsliebling im Tor: Lawrence Ati Zigi. Was wäre das für eine Geschichte, wenn ausgerechnet er den St. Gallern die drei Punkte im Spitzenduell sichert.

Und er tut es. Mit einer lässigen Parade lenkt der 23-jährige Ghanaer Hoaraus Penalty um den Pfosten. Der restlos ausverkaufte Kybunpark hebt ab. Das Stadion bebt und zittert, überall liegen sich Menschen in den Armen. Die 19’024 Zuschauer lassen sich von ihren Emotionen überwältigen. So schön kann Fussball sein.

Eine Sache ist unbestreitbar: So ein Entscheid zerstört jegliche Emotionen

Oder könnte, denn die Jubelszenen werden jäh unterbrochen als Bieri die Gelbe Karte zückt und sich Hoarau erneut den Ball schnappt. Selbst der YB-Block bemerkt zuerst nicht, was gerade geschieht. Und dann sickert es allmählich durch. In Volketswil will man einen Fehler des Torhüters gesehen haben. Zigi sei bei der Ballabgabe ganz leicht von der Linie abgerückt. Der Penalty wird wiederholt und fünf Minuten nach Ablauf der Nachspielzeit landet der Ball doch noch im Netz.

Es lässt sich stundenlang darüber diskutieren, ob der Entscheid richtig oder falsch war, ob er pingelig oder kleinlich war, oder ob diese Regel manchmal angewendet wird und manchmal nicht. Aber eine Sache ist unbestreitbar: So ein Entscheid zerstört jegliche Emotionen. Was ist das für ein Fussball, bei dem sich Spieler und Zuschauer nach einem Erfolgserlebnis gar nicht mehr freuen können? Nach jedem Treffer muss zuerst zwei Minuten gebangt werden, weil vielleicht doch eine Zehenspitze im Abseits stand oder der Ball irgendwo einen Arm streifte. Es schleicht sich bei jedem Tor neben der Freude sofort auch die Angst in die Köpfe der Anhänger. Wollen wir das wirklich?

Gerechtigkeit ist gut, aber zu welchem Preis?

«So macht man die Emotionen kaputt», wettert St. Gallens Lukas Görtler nach der Partie im Interview bei Teleclub. Und er ist längst nicht der Einzige, der sich über diese neue Entwicklung aufregt. «Man hebt uns fünfmal in den Himmel und drückt uns fünfmal wieder auf den Kopf», fasste der deutsche Lars Bender den VAR unlängst zusammen. Und auch der sonst so euphorische Jürgen Klopp gibt sich ernüchtert: «Man kann gar keine Tore mehr feiern, wir müssen warten, bis jemand sagt, dass es ein Tor ist.

Vor allem bei Fans, die regelmässig ins Stadion gehen, ist der Ärger über den Videoschiedsrichter gross. Etliche Fanklubs in ganz Europa haben bereits mit Sprechchören oder Bannern gegen den VAR Stellung bezogen.


«Tötet die Leidenschaft, tötet die Atmosphäre, tötet das Spiel. VAR jetzt beenden», mit dieser Nachricht protestieren Fans in England gegen den Videoschiedsrichter.
«Tötet die Leidenschaft, tötet die Atmosphäre, tötet das Spiel. VAR jetzt beenden», mit dieser Nachricht protestieren Fans in England gegen den Videoschiedsrichter.
Bild: Getty

Der ehemalige Tottenham-Trainer Mauricio Pochettino schliesst sich dem an. «Im Fussball geht es um Emotionen. Wenn wir diese töten, wird niemand glücklich sein», warnte der Argentinier bereits vor zwei Jahren. «Wenn wir weiter in diese Richtung gehen, dann verändern wir das Spiel, das wir lieben.» Damit trifft Pochettino den Nagel auf den Kopf. Der VAR droht dem Sport seine Grundlage zu entziehen.

Der Videoschiedsrichter wurde eingeführt, um die Unparteiischen zu entlasten und Diskussionen zu unterbinden. Im Gegenzug wurde dem Sport ein Teil seiner Seele gestohlen. War es das wert? Und ist Fussball heute überhaupt gerechter?

Zurück zur StartseiteZurück zum Sport