Aggressive Vögel, süchtige FischeWie unsere Medikamente und Drogen die Tierwelt radikal verändern
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6.6.2024
Methabhängigkeit, Aggressionen, Geschlechtsveränderungen: Moderne Medikamente und Drogen haben erhebliche Auswirkungen auf manche Tiere, so eine aktuelle Studie. Forscher sehen die Biodiversität bedroht.
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06.06.2024, 21:01
06.06.2024, 21:06
Maximilian Haase
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Menschengemachte Medikamente und Drogen verändern manche Tierarten einer aktuellen Studie zufolge nachhaltig.
Der Einfluss der Substanzen kann demnach erhebliche Auswirkungen auf Verhalten und Anatomie der Tiere haben.
Als Beispiele nennen die Forschenden von Meth abhängige Bachforellen, aggressive Vögel und Barsche ohne Angst vor Raubtieren.
Wie sich Medikamente und Drogen auf den Menschen auswirken, wird regelmässig und hinlänglich erforscht. Relativ neu ist hingegen der wissenschaftliche Blick auf die Folgen unserer legalen und illegalen Substanzen für die Tierwelt. Und die sind beachtlich, wie eine neue Studie nun herausgefunden hat. Einige Tierarten, so die Forscher*innen, tragen erhebliche Veränderungen davon.
Von Bachforellen, die süchtig nach Methamphetaminen werden, über Vögel, die aggressives Verhalten an den Tag legen, bis zur Veränderung des Geschlechts bei manchen Fischen: Wissenschaftler*innen warnen vor dem enormen Einfluss von Drogen- und Medikamentenrückständen auf das Verhalten und die Anatomie von Tieren. Die in der Zeitschrift «Nature Sustainability» veröffentlichte Studie, über die auch der britische «Guardian» berichtet, nennt eindrückliche und bisweilen kuriose Beispiele.
Verhütungspillen führen zu Geschlechtsänderung
So zeigten Untersuchungen, dass europäische Barsche aufgrund von Antidepressiva ihre so wichtige Angst vor Raubtieren verlieren können; andere Fische wiederum wegen Koffeins dauerhaft ängstlich bleiben. Weibliche Stare, die dem Antidepressivum Prozac in Konzentrationen ausgesetzt sind, wie sie in Abwasserkanälen vorkommen, werden für potenzielle Partner weniger attraktiv. Männliche Vögel zeigen hingegen aggressiveres Verhalten und singen weniger, um die Weibchen anzulocken.
Ein besonders alarmierendes Beispiel zeigt, welche Folgen die Rückstände von Verhütungspillen haben können: Bei einigen Fischpopulationen hätten diese laut Studie zu einer Veränderung des Geschlechts geführt. Männliche Fische würden demnach weibliche Organe entwickeln, was wiederum einen Rückgang der Populationen und lokale Aussterbeereignisse nach sich gezogen hätte.
Diese Erkenntnisse lassen den Forscher*innen zufolge darauf schliessen, dass pharmazeutische Abfälle erhebliche Konsequenzen für die Tierwelt haben und möglicherweise unbeabsichtigte Folgen für den Menschen mit sich bringen könnten. Auch deshalb fordern die Autor*innen die pharmazeutische Industrie dringend auf, Medikamente umweltfreundlicher zu gestalten.
Falsche Entsorgung und menschliche Ausscheidungen
Doch wie gelangen die Medikamente und Drogen überhaupt in die Fauna? «Aktive pharmazeutische Wirkstoffe sind in Wasserwegen weltweit zu finden, auch in Organismen, die wir essen könnten», erklärt Michael Bertram, einer der Autoren und Assistenzprofessor an der Swedish University Of Agricultural Science, im «Guardian». Es handele sich um ein Problem, das in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden sei und mehr Aufmerksamkeit verdiene.
Es gäbe Bertram zufolge mehrere Wege, wie diese Chemikalien in die Umwelt gelangen: Eine Möglichkeit sei die unzureichende Entsorgung von pharmazeutischen Abfällen, die bei der Herstellung freigesetzt werden. Eine andere ist die Nutzung durch den Menschen. «Wenn jemand eine Pille nimmt, wird nicht das gesamte Medikament im Körper abgebaut und gelangt so über unsere Ausscheidungen direkt in die Umwelt», zitiert die britische Zeitung den Wissenschaftler.
Zu den Substanzen, die in die Ökosysteme gelangen können, zählen insbesondere Koffein, Anti-Angst-Medikamente, Antidepressiva und Antipsychotika sowie illegale Drogen wie Kokain und Methamphetamin. Ein weiteres Beispiel ist das entzündungshemmende Medikament Diclofenac, das in Südasien Rindern verabreicht wurde und dort bereits zu einer bedenkenswerten Kettenreaktion im Ökosystem führte.
Weil sich Geier oft von den Rinderkadavern ernährten, kam es aufgrund der Kontamination mit dem Medikament in Indien zwischen 1992 und 2007 zu einem Rückgang der Geierpopulation um mehr als 97 Prozent. Dies wiederum veranlasste einen Anstieg der Tollwutfälle, da Hunde, die sich von den nicht mehr von Vögeln gefressenen Kadavern ernährten, vermehrt infiziert wurden.
Forderung nach «grüneren» Medikamenten
Besorgniserregend sei der Studie zufolge, dass genau jene Eigenschaften von Arzneimitteln, die zur besseren Wirkung bei Patient*innen beitrügen, sie auch zu besonders gefährlichen Umweltverschmutzern machten. Schliesslich seien Medikamente darauf ausgelegt, bereits in geringen Dosen biologische Wirkungen zu entfalten.
Die Forschenden betonen in ihrer Studie auch, dass die Verschmutzung durch aktive pharmazeutische Wirkstoffe vor dem Hintergrund anderer Bedrohungen der Biodiversität wie der Klimakrise, der Zerstörung von Lebensräumen und des übermässigen Konsums stattfinde. In der Konsequenz präsentieren die Autor*innen nicht nur ihre Studienergebnisse, sondern ziehen daraus auch Schlüsse – und stellen Forderungen.
So solle die Arzneimittelproduktion und der Zyklus von Medikamenten reformiert werden, um deren Auswirkungen auf die Ökosysteme zu begrenzen. Apotheker*innen, Ärzt*innen, Pflegende und Tierärzt*innen sollten über die potenziellen Umweltauswirkungen von Medikamenten geschult werden. Vor allem aber fordern die Forscher*innen, dass Medikamente so gestaltet werden, dass sie nach der Anwendung leichter abgebaut werden. Nicht umsonst lautet bereits der Titel der Studie sinngemäss übersetzt: «Die dringende Notwendigkeit, grünere Medikamente zu entwickeln».