Erbeutung der Enigma Schon 1941 verliert Hitler den Krieg – nur weiss er es noch nicht

Von Philipp Dahm

9.5.2021

Amerikanische Code-Knacker: Mitarbeiter des U.S. Army Signals Intelligence Service 1943 in Arlington Hall, Virgina.
Amerikanische Code-Knacker: Mitarbeiter des U.S. Army Signals Intelligence Service 1943 in Arlington Hall, Virgina.
Bild: Gemeinfrei

Heute vor 80 Jahren gelingt es der Royal Navy, ein deutsches U-Boot aufzubringen. Mit der U-110 fallen den Alliierten Code-Bücher und eine Enigma-Chiffriermaschine in die Hand, was den Lauf des Krieges ändert.

Von Philipp Dahm

9.5.2021

Heute vor 80 Jahren ist Adolf Hitler auf Kurs. Frankreich und Polen sind geschlagen, gerade erst hat Jugoslawien kapituliert und die Wehrmacht ist in Athen eingerückt.

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris stehen Berlin nun auch Häfen an der Atlantikküste zur Verfügung: Deutsche U-Boote richten schwere Schäden unter Konvois an, die Grossbritannien versorgen. «Die einzige Sache, die mich während des Krieges je wirklich geängstigt hat, war die Bedrohung durch U-Boote», wird Winston Churchill später schreiben.

In der Atlantikschlacht feiern die U-Boote anfangs spektakuläre Erfolge: Der deutsche Vizeadmiral Karl Dönitz etabliert die Rudeltaktik (englisch: wolf pack), bei dem mehrere U-Boote einen Konvoi im Verbund angreifen. Zwischen Juni und Dezember 1940 versenken die Kapitäne 4,5 Millionen Bruttoregistertonnen, ohne dabei selbst nennenswert Schaden zu nehmen.

Das Boot

Die Seefahrer nennen diese Periode die «Erste glückliche Zeit» – doch die Alliierten lernen aus ihren Fehlern. Sie bauen mehr Eskorten für die Konvois, führen Radargeräte ein und spüren ihre Feinde mittels Kurzwellenpeilung auf. Im März gelingt es ihnen, die erfolgreichsten U-Boot-Kommandanten aufzubringen, die Nazideutschland zu bieten hatte.

Einen noch grösseren Coup kann die Royal Navy jedoch am 9. Mai 1941 landen, als ihr U-110 in die Hände fällt – und mit ihr Code-Bücher und eine Chiffriermaschine vom Typ Enigma, die die Deutschen für unüberwindbar halten. Das Knacken des Codes wird den Alliierten ermöglichen, den Funkverkehr der deutschen Kriegsmarine abzuhören.

Bootsabzeichen von U-30: Der Foxterrier «Schnurzl» des Kommandanten Fritz Julius Lemp war mit an Bord und wurde von einem Matrosen auf dem Turm verewigt. Das Emblem wurde auf der U-110 übernommen.
Bootsabzeichen von U-30: Der Foxterrier «Schnurzl» des Kommandanten Fritz Julius Lemp war mit an Bord und wurde von einem Matrosen auf dem Turm verewigt. Das Emblem wurde auf der U-110 übernommen.
Bild: Deutsches Bundesarchiv

U-110 läuft am 21. November 1940 in Bremen vom Stapel. Kommandiert wird das Boot vom Typ IXB von Fritz-Julius Lemp, der das erste Schiff im Zweiten Weltkrieg versenkt hat. Leider handelte es sich beim Abschuss der Athenia am 3. September 1939 um einen Passagierdampfer: 112 Menschen sterben, weil der Kapitän der U-30 das Schiff für einen Hilfskreuzer hält.

Lemps Schicksal: Konvoi OB 318

Als Lemp die U-110 übernimmt, ist er 28 Jahre alt. Er kann auf seiner ersten Feindfahrt, die in von Kiel in Norddeutschland nach Lorient in Frankreich führt, bloss zwei Schiffe beschädigen. Nachdem er am 15. April wieder ausgelaufen ist, versenkt er Ende April einen französischen Dampfer, bevor er am 8. Mai nordwestlich von Schottland auf den Konvoi OB 318 trifft. 

Kapitänleutnant Lemp 1940 an der Seite von Vizeadmiral Dönitz.
Kapitänleutnant Lemp 1940 an der Seite von Vizeadmiral Dönitz.
Bild: Deutsches Bundesarchiv

Einen Tag lang belauert U-110 den Konvoi, in dem 40 Frachter mitfahren – aber auch drei Zerstörer und drei Korvetten, die Geleitschutz geben. Dann greift Lemp an: Er feuert drei Torpedos ab, von denen zwei treffen und einen norwegischen und einen britischen Dampfer versetzen. Doch dann erspäht die Korvette HMS Aubrietia das Sehrohr der U-110: Der Jäger wird nun zum Gejagten.

Die Zerstörer HMS Broadway und HMS Bulldog nehmen Fahrt auf: Die  Navy-Schiffe decken die U-110 mit Wasserbomben ein – und richten schwere Schäden an. Das U-Boot, das noch nicht sehr tief abtauchen kann, sinkt weiter ab, als Lemp den Befehl zum Auftauchen gibt. Als sie die Oberfläche erreichen, sehen sie die HMS Bulldog auf Rammkurs.

Warum schwimmt der Kapitän zurück?

Das deutsche Boot ist bewegungsunfähig, der Kampf ist verloren. Die Crew verlässt das Schiff, Schüsse fallen. 14 Deutsche sterben, doch 32 Matrosen werden vor dem Ertrinken gerettet. Aber was ist mit Kapitän Lemp? Und warum versinkt dessen U-Boot nicht in den Fluten?

U-110 und HMS Bulldog.
U-110 und HMS Bulldog.
Gemeinfrei

Es ist unklar, was aus Sicht der Kriegsmarine falsch gelaufen ist – mal abgesehen von der Tatsache, dass ihr U-Boot entdeckt wurde. Vielleicht ist eine Selbstversenkung eingeleitet worden, die fehlgeschlagen ist. Vielleicht denkt der Kapitän, U-110 werde ohnehin sinken – oder von einem Navy-Schiff gerammt.

Lemp ist unter denen, die sich von Bord retten können, doch anscheinend ist der Kapitän wieder zum Boot zurückgeschwommen, bevor sich seine Spur verliert. Ist ihm bewusst geworden, dass U-110 nicht untergeht? Wollte er das Geheimnis bewahren, das in ihm schlummert? Oder fürchtete er Repressalien, weil er 1939 die Athenia auf den Meeresgrund geschickt hat?

Endlich Enigma

Das alles bleibt Spekulation. Fakt ist, dass es den Briten sofort dämmert: Mit U-110 liegt eine Chance vor ihnen. Ein Prisenkommando setzt zum Boot über und nimmt es in Augenschein: Es findet wertvolle Code-Bücher, Geheimdokumente – und erstmals fällt den Alliierten eine Enigma in die Hände.

HMS Bulldog im April 1944: U-Boot-Angriffe galten bei der Überwasser-Marine als feige.
HMS Bulldog im April 1944: U-Boot-Angriffe galten bei der Überwasser-Marine als feige.
Bild: Gemeinfrei

Beim Versuch, U-110 zu einer Navy-Basis auf Island zu schleppen, sinkt das U-Boot am 11. Mai. Doch als die Eskorte ihre restliche Beute präsentiert, ist die Freude in London riesig: Die Alliierten knacken dank des Fundes die Verschlüsselung der Kriegsmarine. Sie können so die Positionen von Versorgern bestimmen, ohne die die U-Boote kaum operieren können – aber auch die Kriegsschiffe selbst ausmachen.

Weil die Überlebenden von U-110 in Kriegsgefangenschaft in England gehen, ahnt Berlin nichts von all dem. Als immer mehr Marine-Operationen fehlschlagen, vermuten sie Verrat. Dass die Enigma geknackt worden ist, schliessen die Nazis aus. Doch spätestens ab 1. Februar 1942 muss ihnen klar geworden sein, dass es doch nicht daran liegt: Chiffrierverfahren und Codes werden dann geändert.

Hitler verliert das (De-)Chiffrier-Wettrennen

Vorübergehend bessert sich die Lage: Die «Zweite glückliche Zeit» für U-Boot-Fahrer beginnt, in denen die Kapitäne noch einmal grosse Erfolge feiern. Doch auch das Enigma-Update wird Mitte Dezember 1942 geknackt: Fortan werden deutsche Seefahrer nicht mehr sicher sein. Kein Wunder, dass am Ende des Krieges zwei Drittel der deutschen U-Boot-Mannschaften tot sind.

Die Bedeutung der Nachrichtenaufklärung im Zweiten Weltkrieg kann gar nicht genug betont werden. Sie spiegelt sich darin wider, dass auf amerikanischer und britischer Seite Tausende damit beschäftigt sind, Funksprüche der Nazis zu dechiffrieren. Das Thema wäre ein Kapitel für sich.

Ungetüm: Das ist die Desch-Bombe, eine amerikanische Weiterentwicklung der britischen Turing-Bombe. Mithilfe dieses Apparats wurde die letzte Version der Enigma dechiffriert.
Ungetüm: Das ist die Desch-Bombe, eine amerikanische Weiterentwicklung der britischen Turing-Bombe. Mithilfe dieses Apparats wurde die letzte Version der Enigma dechiffriert.
Bild: WikiCommons/J Brew

Schon vor dem Krieg gelingt polnischen Mathematikern, was Briten für undenkbar halten: die frühe Version der Enigma zu knacken. Sie übergeben kurz vor dem Überfall auf ihre Heimat ihre Erkenntnisse Briten und Franzosen, die auf diese Arbeiten aufbauen. Während des Krieges kommt es zu einem Rennen – und immer wieder kann der Code geknackt werden.

Der handfeste Coup 1941 bildet die Ausnahme in dem intellektuellen Wettrennen – ein Husarenstreich.