50-mal stärker als Heroin Fentanyl überschwemmt die Strassen von Los Angeles

Jae C. Hong und Brian Melley, AP/tpfi

1.12.2022

Ein Fentanyl-Süchtiger in Los Angeles. (AP Photo/Jae C. Hong)
Ein Fentanyl-Süchtiger in Los Angeles. (AP Photo/Jae C. Hong)
KEYSTONE

Sucht macht oft obdachlos, Obdachlosigkeit erzeugt oft Sucht – ein Teufelskreis, der auf den Strassen der kalifornischen Metropole Los Angeles drastisch zu Tage tritt. Hier fordert die mächtige Droge Fentanyl immer mehr Opfer.

Jae C. Hong und Brian Melley, AP/tpfi

1.12.2022

In einer schmutzigen Gasse hinter einem Doughnut-Shop in Los Angeles liegt Ryan Smith zuckend auf dem Asphalt. Der Fentanyl-Rausch hat ihn voll im Griff, Phasen, in denen er vor sich hin döst, werden von Krämpfen und heftigem Zittern abgelöst, an einem warmen sonnigen Tag in der kalifornischen Metropole.

Als Brandice Josey, wie er obdachlos und süchtig, sich bückt und – als Akt der Barmherzigkeit – eine Wolke von Fentanyl-Rauch in seine Richtung pustet, richtet sich Smith auf, öffnet langsam seine Lippen, um den Dunst einzuatmen, als ob es ein Heilmittel für seine Probleme wäre. Dann lehnt er sich an seinen Rucksack zurück und döst den Rest des Nachmittags vor sich hin – der Gestank von verrottetem Essen und menschlichen Exkrementen in der Luft kümmert ihn nicht.

Tödlichstes Rauschgift der USA

Szenen wie diese sind in Los Angeles kein seltener Anblick. Das stark suchterzeugende und potenziell tödliche Fentanyl fordert unter der wachsenden Zahl von Menschen, die auf den Strassen der Stadt leben, immer mehr Opfer. Fast 2000 Obdachlose starben hier zwischen April 2020 und März 2021, 56 Prozent mehr als im vorausgegangenen Vergleichszeitraum, wie die Behörde für öffentliche Gesundheit im Bezirk Los Angeles berichtet. Und Überdosen waren die häufigste Todesursache, machten 700 der Todesfälle aus.

Das synthetische Opioid, das sich billig herstellen lässt, wurde zur Behandlung intensiver Schmerzen etwa bei Krebserkrankungen entwickelt, aber der Gebrauch ist im Laufe der Zeit explodiert. 50 Mal stärker als Heroin kann sogar eine kleine Dosis das Leben kosten. So ist Fentanyl der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA zufolge schnell zum tödlichsten Rauschgift im Land geworden, zwei Drittel der 107'000 Sterbefälle durch Überdosen im Jahr 2021 werden auf synthetische Opioide wie Fentanyl zurückgeführt. Und die traurigen Folgen gehen weit über die Strassen hinaus.

«Die Entzugserscheinungen sind wirklich schlimm»

Jennifer Catano in Los Angeles hat die Namen ihrer zwei Kinder auf ihren Handgelenken tätowiert – aber die beiden seit mehreren Jahren nicht gesehen. Sie leben bei ihrer Mutter. Catano ist süchtig, hat dreimal eine Überdosis genommen und sieben oder acht Mal eine Drogenentzug-Therapie durchlaufen. «Es ist schaurig, davon loszukommen», sagt die 27-Jährige. «Die Entzugserscheinungen sind wirklich schlimm.» So versuchte sie denn unlängst, an einer U-Bahnstation eine Flasche Weichspüler und einen Campingstuhl zu verkaufen, den sie in einem Laden in der Nähe gestohlen hatte – ein verzweifelter Versuch, Geld für ihre Droge zusammenzubekommen.

Rauschgift-Missbrauch kann ein Grund für Obdachlosigkeit sein oder ein Symptom, beides kann sich auch mit psychischer Krankheit überkreuzen. Eine behördliche Studie im Jahr 2019 ergab, dass ein Viertel aller obdachlosen Erwachsenen im Bezirk Los Angeles psychisch krank war und 14 Prozent unter Drogenmissbrauch litten. Und diese Analyse erfasste nur Menschen mit ernsten permanenten oder Langzeit-Problemen. Die «Los Angeles Times» kam bei einer breiter angelegten Interpretation der Daten zu dem Schluss, dass die Zahl der psychisch Kranken bei 51 Prozent lag und 46 Prozent Drogen missbrauchten.

Überwältigendes Elend

In Kalifornien werden Milliarden Dollar zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit ausgegeben, aber es gibt nicht immer ausreichende Finanzmittel für medizinische Behandlungen. Ein von Gouverneur Gavin Newsom unterzeichnetes umstrittenes Gesetz könnte die Lage verbessern, es zwingt Menschen, die an ernsten psychischen Erkrankungen leiden, sich behandeln zu lassen. Aber das gilt nur für bestimmte Krankheiten wie etwa Schizophrenie, und Sucht allein ist kein ausreichender Grund.

Es gibt Hilfe, aber das Ausmass des Elends auf den Strassen ist schlicht überwältigend. Rita Richardson kann davon ein Lied singen. Sie ist vor Ort für LA Door tätig, ein städtisches Programm zur Suchtverhinderung, das sich an Menschen wendet, die wegen kleinerer Delikte verurteilt worden sind. Die Einrichtung gibt an fünf Tagen in der Woche jeweils an denselben Hotspots in Los Angeles Socken, Wasser, Kondome, saubere Nadeln, Imbisse und Flugblätter aus.

Richardson, selbst eine ehemalige drogenabhängige Obdachlose, hofft, dass diese Kontinuität Menschen dazu ermutigt, Hilfe zu suchen. «Vielleicht geht dann ein Licht auf. Es mag nicht in diesem Jahr geschehen, es mag nicht im nächsten Jahr geschehen. Es mag mehrere Jahre dauern», sagt sie. «Mein Ziel ist es, sie aus der Dunkelheit ins Licht zu bringen.»

Endstation im Hinterhof

Teile von Los Angeles sind zu Schauplätzen von Verzweiflung geworden. Männer und Frauen liegen ausgestreckt auf Bürgersteigen, zusammengerollt auf Bänken oder in heruntergekommen Gassen auf der Erde. Manche sitzen zusammengekauert und rauchen die Droge, andere spritzen sie sich ein.

Armando Rivera pustet weisse Wölkchen in die Luft, um Süchtige in der Gasse anzulocken, in der Smith vor sich hin döst. Der 33-Jährige muss etwas Stoff verkaufen, um mehr kaufen zu können. Jene ohne genügend Geld lungern in der Nähe, in der Hoffnung auf eine kostenlose Gabe. Rivera zeigt keine Gnade.

Catano konnte den Campingstuhl nicht verkaufen. Aber am Ende nahm ihr ein Strassenhändler die Flasche Weichspüler ab, gab ihr dafür fünf Dollar. Es war genug für einen neuen Rausch.