Rätsel nach Bluttat mit zehn Opfern Amokfahrt in Toronto: Was wir wissen - was unklar ist

Johannes Schmitt-Tegge, dpa

24.4.2018

Auch Stunden später gibt die Bluttat Rätsel auf. Warum steuert ein 25-Jähriger seinen Lieferwagen auf einen Gehweg, mäht wahllos Passanten um - und fordert die Polizei dann auf, ihn zu erschiessen? Die Ermittler scheinen zumindest eine Vermutung zu haben.

Die von Trümmern und Blutspuren gesäumte Todesstrecke zieht sich über mehrere Kilometer, vorbei an Geschäften, Restaurants, Wohnhäusern. Mitten in einem belebten Geschäftsviertel Torontos hat der Fahrer eines Lieferwagens seinen gemieteten Transporter in eine Waffe verwandelt und zehn Menschen getötet. 15 weitere wurden bei der Zickzackfahrt über Gehwege verletzt, wie Polizeichef Mark Saunders sagte. Mehrere schwebten nach dem Vorfall vom Montag in Lebensgefahr. Der 25 Jahre alte Fahrer wurde festgenommen, weitere Verdächtige gab es nach Polizeiangaben nicht.

Zu Motiven oder einem möglichen terroristischen Hintergrund machten die Behörden zunächst keine Angaben. Alles sehe nach einer vorsätzlichen Tat aus, ermittelt werde in alle Richtungen, sagte Saunders. Die Sender NBC und CTV berichteten unter Berufung auf Strafverfolger und Sicherheitskreise, der Täter sei vermutlich geistig verwirrt.

«Ich sah einen alten Mann durch die Luft fliegen.»

Innerhalb von Minuten verwandelte sich die Geschäftsgegend im Bezirk North York, der etwa 30 Minuten nördlich von der Innenstadt liegt, in einen blutigen Tatort. Mit 60 bis 70 Stundenkilometern erfasste der weisse Wagen Fussgänger, als er um die Mittagszeit von der Strasse auf den Bürgersteig fuhr und über rund 15 Strassenblocks hinweg immer wieder zwischen Strasse und Geweg wechselte.

Der Täter sei in Schlangenlinien gefahren, sagte Augenzeuge Amir Bahmeyeh dem «Toronto Star». Er habe beobachtet, wie das Auto fünf oder sechs Menschen erfasste. «Ich sah einen alten Mann durch die Luft fliegen.» Die Menschen hätten um Hilfe geschrien und versucht, die Polizei in Richtung des Fahrers zu lotsen.

Michele Kelman, die in der Gegend bei einer IT-Firma arbeitet, wurde auf dem Rückweg vom Mittagessen fast von dem Auto erfasst. Sie und ihre Freundin hätten hinter sich Schreie gehört und durch die Luft wirbelnde Gegenstände gesehen, sagte sie der «Globe and Mail». Der Wagen sei auf sie zugerast und habe dann ihre Freundin tödlich getroffen. «Überall waren Körper», sagte Kelman.

Täter: «Schiess' mir in den Kopf!»

Laut Polizeichef Saunders handelt es sich bei dem nicht vorbestraften Fahrer um einen 25-Jährigen namens Alek Minassian. Sein Wagen kam mit völlig demolierter Motorhaube auf dem Gehweg zum Stehen, ehe die Polizei ihn umstellte. Im Video eines Augenzeugen ist zu sehen, wie der Fahrer mit einem Gegenstand in Richtung eines Polizisten zeigt und dabei «Töte mich!» sowie «Schiess' mir in den Kopf!» ruft. Schüsse fielen vor seiner Festnahme aber nicht.

Polizeichef Saunders lobte den Beamten, der Minassian überwältigt hatte. «Durch sein Training hat der Polizist fantastische Arbeit geleistet», zitierte der US-Sender CNN Saunders. Bei der Festnahme habe der Polizist die Lage schnell begriffen und so eine «friedliche Lösung» erreicht. «Die Polizisten hier lernen, so wenig Gewalt wie möglich anzuwenden.» Saunders zufolge hatte der Angreifer keine Schusswaffe bei sich. Welchen Gegenstadt er bei seiner Festnahme in der Hand hielt, werde noch untersucht.

«Er hat die Leben so vieler Menschen zerstört», sagte Augenzeuge Alex Shaker dem Sender CTV. «Alles, was ihm in den Weg kam.» Auch jemand mit einem Kinderwagen sei vom Auto erfasst worden. Kurz nach dem Schock versuchten Augenzeugen, verletzten Opfern zu helfen. Auf dem Gehweg waren Blutspuren zu sehen, Fotos zeigten mit orangefarbenen Planen bedeckte, offenbar leblose Körper.

Mittlere Terrorwarnstufe bleibt unverändert

Torontos Bürgermeister John Tory sprach den Bürgern Mut zu. «Die Stadt ist momentan in sicheren Händen», sagte Tory. Er bat Anwohner, nach Hause zu gehen und Ruhe zu bewahren. «Es ist eine Zeit, in der wir so ruhig wie nur möglich sein sollten.» Die Polizei sperrte die Gegend ab, auch der U-Bahnverkehr wurde unterbrochen.

Die zuvor geltende mittlere Terrorwarnstufe in der kanadischen Millionenmetropole, wo bis Montag die Aussenminister der G7-Staaten getagt hatten, bleibe unverändert, sagte Ralph Goodale, Minister für öffentliche Sicherheit. Für eine erhöhte Terrorgefahr gebe es keine Hinweise. Kanadas Premierminister Justin Trudeau äusserte sich entsetzt über den «schrecklichen Vorfall» und dankte den Rettern vor Ort. Bundesaussenminister Heiko Maas sprach den Überlebenden des «schrecklichen Verbrechens» sein Beileid aus, ebenso wie die US-Regierung.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker stellte in seinem Beileidschreiben zudem den Polizei-Einsatz nach der Todesfahrt von Toronto als heldenhaft heraus. «Ganz besonders denken wir an die heroischen Ersthelfer, deren Ruhe und Mut die Situation gelöst haben, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben wurde», schrieb Juncker am Dienstag in einem Brief an Kanadas Premierminister Justin Trudeau, wie die Brüsseler Behörde mitteilte. «Ihr Verhalten hat unzweifelhaft viele weitere Leben gerettet und wir schulden ihnen Dank.»

In Kanada war es schon mehrmals zu Attacken mit Fahrzeugen gekommen. In Edmonton im Westen des Landes griff ein Angreifer im September einen Polizisten mit einem Messer an und rammte dann vier Menschen mit einem gemieteten Lieferwagen. 2014 fuhr ein Mann in Québec zwei Soldaten an, einer von ihnen kam ums Leben.

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