Corona-Watch Von Denunzianten und solchen, die es werden wollen

Von Philipp Dahm

14.4.2020

Katharina Thalbach als Helene Schwärzel in «Die Denunziantin».
Katharina Thalbach als Helene Schwärzel in «Die Denunziantin».
Bild:  PR

Macht uns die Corona-Krise zu einem Volk von Petzen, das sofort nach der Staatsmacht schreit, wenn etwas nicht nach Vorschrift läuft? 

Es ist eine Filmszene, die mir in Erinnerung geblieben ist. Mutter Schwärzel sagt bestimmt und trotzig zur Tochter Helene: «Der grösste Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.»

Die Tochter, fabelhaft gespielt von der Ostberlinerin Katharina Thalbach, schaut ihre Mutter betroffen an. Sie versteht den Vorwurf nicht richtig, aber sie ahnt, dass es falsch gewesen sein könnte, was sie grad getan hat. Jene Szene entstammt dem Film «Der Denunziant» von 1993, der die Geschichte der Frau erzählt, die im deutschen Konradswalde den Widerstandskämpfer Carl Friedrich Goerdeler ans Messer geliefert hat.

Dafür hat Helene Schwärzel 1944 die höchste Belohnung erhalten, die je eine Einzelperson in Nazi-Deutschland hat einstreichen können: eine Million Reichsmark.

Grosse Augen macht Helene-Darstellerin Thalbach, als die Film-Mutter ihr trotz dieser Summe jeglichen Respekt verweigert – und bald darauf stirbt. Die Luftwaffenhelferin hat zuvor in einem Schankraum den Tisch für ihre Chefs gedeckt, als sie am 12. August in dem Gasthaus den landesweit gesuchten Hitler-Attentäter erkennt und ihn mit einer Notiz an ihre Chefs verrät.

Neuseeland und ein weit hergeholter Vergleich

75 Jahre später auf der anderen Seite des Erdballs: Als die Polizei in Neuseeland am 29. März eine Homepage einrichtet, auf der die Bürger Verstösse gegen die Anti-Corona-Massnahmen melden können, bricht die Website wegen des Andrangs zweitweise zusammen.

4'200 Beschwerden gegen mögliche und offensichtliche Sünder gingen ein – hin von Fremden, die verbotenerweise weiter im Camper Ferien machten bis zu jenen 60 Rucksack-Touristen, die in der Stadt Queenstown feierten.

Nicht nur mit Blick auf die Tausende Kilometer Entfernung wäre es nun weit hergeholt, Deutschland 1944 mit Neuseeland 2020 zu vergleichen. Und generell ist es ja verständlich, wenn sich Mitbürger Sorgen machen.

Wer zum Beispiel das Video unten kennt, weiss, wie fahrlässige Teenies nach dem «Spring Break» vielleicht nicht selbst an Covid-19 erkranken, aber sicherlich potenziell das neue Coronavirus im Rest der Landes verbreiten: Anonymisierte Handy-Daten machen einem die Verbreitung schmerzhaft bewusst.

Lehrer des Leidens

Ich verstehe die Mechanismen und weiss, wie das neue Coronavirus streut, aber würde ich deswegen drei oder fünf junge Leute verpfeifen, die irgendwo Musik hören, etwas trinken und dabei nicht genügend Abstand zueinander einhalten? Ich muss an einen meiner früheren Lehrer denken, der der Klasse vor vielen Jahren verraten hatte, wie er Velo-Fahrer stoppte, die verbotenerweise durch den Park fuhren.

Er warf ihnen nämlich einen Stock in die Speichen, erzählte er nicht ohne Stolz und mit ineinander verschränkten Armen. Ich dachte immer, es müsste eine bessere Art geben, Einsicht einzuholen.

Und jetzt? Und hier? Ein Blick auf eine aktuelle Pressemitteilung: «Über das Oster-Wochenende verzeichnete die Stadtpolizei Zürich im Zusammenhang mit dem Corona-Virus rund 210 Einsätze. Wie bereits am Wochenende zuvor wurden in vielen Fällen Situationen nicht so angetroffen, wie von Bürgern gemeldet.» Sind wir also auch übereifrig? Check?

Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen

Und weiter heisst es: «In den meisten Fällen musste die Polizei nicht eingreifen, weil die vorgegebenen Abstände eingehalten worden sind oder bereits keine Leute mehr vor Ort waren.»

Vorschnell können wir also auch? Na klar, check!

Es schlägt jetzt gerade die Stunde jener, die wissen, wo es langgeht, und das auch gern allen erzählen, die es (nicht) hören wollen.

Was nun richtig und was falsch ist, kann ich Ihnen aber leider nicht sagen. Doch vielleicht denken Sie das nächste Mal, wenn Sie sich fragen, ob sie etwas oder jemanden melden sollen, an das Schicksal von Helene Schwärzel. Die wurde mit ihrer Reichsmark-Million nicht glücklich. Obwohl sie kein glühender Nazi war, wurde sie nach dem Krieg zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und starb einsam und verarmt 1992.

Helene Schwärzel 1946 im Gefängnis.
Helene Schwärzel 1946 im Gefängnis.
Bild: Gemeinfrei

Goerdelers Häscher, Richter und Henker wurden für dessen Tod dagegen nicht belangt. Wenn ich wüsste, warum das so ist, hätte ich es Ihnen verraten – unbelassen von diesem wahren Spruch, der übrigens dem deutschen Dichter Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben wird: Der grösste Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.

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