Ausblick aufs Wahljahr 2023 «Dies würde der SVP in die Hände spielen»

Von Alex Rudolf

4.10.2022

Im Oktober 2023 stehen in der Schweiz die Gesamterneuerungswahlen an. Dann werden die Strassen wieder mit Wahlplakaten gesäumt sein: Ein Bild aus dem Wahljahr 2019.
Im Oktober 2023 stehen in der Schweiz die Gesamterneuerungswahlen an. Dann werden die Strassen wieder mit Wahlplakaten gesäumt sein: Ein Bild aus dem Wahljahr 2019.
KEYSTONE/WALTER BIERI

Für je ein FDP- und SP-Mitglied im Bundesrat dürfte die Luft dünn werden, wenn der Abwärtstrend ihrer Parteien nicht gestoppt wird. Ein Politologe ordnet ein.

Von Alex Rudolf

4.10.2022

Wer muss an den nächsten Gesamterneuerungswahlen 2023 Federn lassen? Und wer wird die grosse Siegerin? Antworten auf diese Fragen lassen sich aus den kantonalen Wahlen ablesen, von denen bereits 19 durchgeführt wurden seit dem letzten eidgenössischen Wahlurnengang.

Zuletzt wählte der Kanton Zug am Sonntag seine Volksvertretungen. Hier zählte die GLP mit zwei Sitzgewinnen zu den Siegern und die Mitte mit zwei Sitzverlusten zu den Verlierern. Doch wie sieht es auf nationaler Ebene aus? Polit-Analyst Mark Balsiger erklärt blue News den Formzustand der Schweizer Parteien.

Balsiger berechnet jeweils nach kantonalen Wahlen die Leistungen der verschiedenen Parteien. Eindeutig zu den Siegern gehören demnach die Grünen und die Grünliberalen, die seit 2019 51 beziehungsweise 50 Sitze dazugewonnen haben.

Im Mittelfeld bewegen sich die EVP und die SVP, die fünf Mandate dazugewonnen beziehungsweise deren acht verloren haben. Auf der Verliererstrasse befinden sich die FDP mit total 38 Sitzverlusten, die SP mit 40 Sitzverlusten und die Mitte mit 42 verlorenen Mandaten.

Die Grünen (+51 Sitze)
und die Grünliberalen (+50 Sitze)

Sind Klimawandel und Umwelt auch im kommenden Jahr noch so aktuell, wie sie es in den letzten fünf Jahren waren, werden die Grünliberalen und die Grünen im Oktober 2023 ein gutes Ergebnis erzielen, sagt Balsiger.

Und dafür sieht es nicht schlecht aus. Denn die SVP lanciert das Referendum zum Gegenentwurf der Gletscherinitiative. Kommt dieses zustande, würde im ersten Halbjahr 2023 darüber abgestimmt. «Aus der Vergangenheit wissen wir, dass grüne Parteien bei solchen Themen profitieren, weil ihnen dafür Kompetenz zugesprochen wird», sagt Balsiger.

Nach dem Wahlerfolg von drei Jahren mit einem Plus von 6 Prozentpunkten haben die Grünen eine andere Rolle. Galten sie bis vor Kurzem als Junior-Partnerin der SP, sind sie inzwischen die Nummer 4 im Land. «Im rotgrünen Lager gibt es seither ein Gerangel, weil beide Parteien wissen, dass ihr Teich nicht grösser wird.»

Die SVP (–8 Sitze)

Lediglich acht Mandate verlor die SVP bislang auf Kantonsebene, was darauf hindeutet, dass sie auf ähnlichem Niveau abschneiden wird, wie an den vergangenen Wahlen. «Sie bleibt sicher die mit Abstand stärkste Kraft», sagt Balsiger.

«Dass sie nun gegen die Gletscherinitiative ins Feld zieht und die anderen Parteien gegen sich hat, bringt sie in ihre Lieblingsrolle: alle gegen die SVP. Denn auch wenn sie nur 40 oder 45 Prozent von einem Nein überzeugen kann, konnte sie ihr Profil schärfen und über ihre Parteibasis hinaus mobilisieren.»

Balsiger vermutet auch, dass das Thema Zuwanderung im kommenden Wahlkampf ebenfalls wieder an Wichtigkeit gewinnen. Dies, weil die Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen allmählich abnehmen wird. «Dies würde der SVP in die Hände spielen.»

Die FDP (–38 Sitze)

Um die FDP ist es nicht sonderlich gut bestellt. Sie hat seit 2019 in kantonalen Parlamenten insgesamt 38 Sitze verloren. Was sie auf die eidgenössischen Wahlen im kommenden Jahr aber hoffnungsvoll stimmen darf: «Immer wenn es wirtschaftlich schlechter läuft, hat der Freisinn Chancen, sich mit Wirtschaftskompetenz zu profilieren», so Balsiger.

Dass die schwächelnde Schweizer Wirtschaft auch im kommenden Jahr zum Thema wird, ist laut Balsiger gut möglich. Dies, besonders im Hinblick auf die Energiekrise, die sich für diesen Winter abzeichnet.

Die SP (–40 Sitze)

Bislang büsste die SP in den kantonalen Parlamenten 40 Sitze ein. Eines der grossen Probleme der Partei ist laut Balsiger, dass sie zwar in der Umweltpolitik nahe an den Grünen und den Grünliberalen politisiert. «Dafür wird sie aber von der Wählerschaft nicht belohnt, und das ist bitter.»

Auch Erfolge an der Urne, insbesondere bei Steuervorlagen (Stempelsteuer, Verrechnungssteuer), verschaffen der SP kein Sieger-Image.

Historisch betrachtet sei die SP immer dann stark, wenn soziale Fragen im Zentrum stünden, so Balsiger. Dass solche im kommenden Jahr wieder in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, sei sehr gut möglich.

Die Mitte (–42 Sitze)

Mit einem Minus von 42 Sitzen sieht es für Die Mitte sehr düster aus. Auch wenn diese Verluste eine Addition aus jenen der BDP und CVP sind, aus denen die neue Partei in dieser Legislatur entstand.

«Die Verluste, welche die CVP seit den 1970er-Jahren eingefahren hat, sind dramatisch. Sie verlor inzwischen fast die Hälfte ihrer Wähler, so Balsiger. «Die Fusion mit der BDP war strategisch geschickt, was der neuen Partei zugute geschrieben wird.»

Was geschieht im Bundesrat?

Für Balsiger ist es mehr als ein Gedankenspiel: Wenn die Grünen und die Grünliberalen wie erwartet zulegen und die FDP und die SP verlieren, sind ein Grüner und ein Grünliberaler Bundesrat in Reichweite. «Noch vor wenigen Jahren vereinten die vier Bundesratsparteien bis zu 85 Prozent aller Wählerinnen und Wähler auf sich. Heute sind es nicht einmal mehr 70 Prozent. Das ist problematisch», sagt Balsiger. Obwohl sich das Parlament bewusst sei, dass die Abwahl eines Bundesrates sehr unschön sei und grosse Verletzungen hinterlasse, könnte es in einem Jahr wieder passieren.