Soziologin über Impf-Privilegien «Von Diskriminierung kann man nicht sprechen»

Von Gil Bieler

22.4.2021

Hier gibt es die Corona-Impfung – und damit wohl bald auch gewisse Freiheiten: Blick in das Impfzentrum in der Festhalle Willisau im Kanton Luzern. 
Hier gibt es die Corona-Impfung – und damit wohl bald auch gewisse Freiheiten: Blick in das Impfzentrum in der Festhalle Willisau im Kanton Luzern. 
Bild: Keystone/Urs Flüeler

Wer im Sommer an ein Open Air oder in die Bar will, braucht wohl ein Covid-Zertifikat: Droht uns eine Zweiklassengesellschaft? Soziologin Katja Rost erklärt, was bei solcher Kritik vergessen geht.

Von Gil Bieler

22.4.2021

Ob Konzert- oder Discobesuch: Im Sommer soll es gewisse Freiheiten nur mit einem Covid-Zertifikat geben. Ist diese Ungleichbehandlung aus soziologischer Sicht problematisch?

Problematisch wäre es dann, wenn Leute, die sich impfen lassen wollen, bis zum Sommer noch keinen Impftermin erhalten haben – und dann eben ausgeschlossen werden. Ich denke aber, dass man hier ohnehin nicht von Diskriminierung sprechen kann. Es wird niemand ausgeschlossen, sondern jeder hat eine individuelle Wahlmöglichkeit, ob er sich impfen lässt oder nicht.

Aber wer sich nicht impft, muss mit Nachteilen rechnen.

Das stimmt. Aber in der Diskussion geht oft vergessen, dass das Impfen nicht nur eine individuelle Entscheidung ist, sondern dass diese auch Konsequenzen für die Gemeinschaft hat. Würde sich niemand impfen lassen, könnten wir auch keine Herdenimmunität entwickeln. Somit leistet jeder, der sich impfen lässt, auch einen Beitrag zum Kollektivgut. Dann Leute auszuschliessen, die dies bewusst nicht tun wollen, obwohl sie die Möglichkeit dazu hätten, empfinde ich nicht als ungerecht.

Zur Person

Katja Rost ist Professorin am Soziologischen Institut der Universität Zürich.

Wir sprechen übers Impfen, doch auch ein negativer Corona-Test würde zu denselben Freiheiten berechtigen – eine zumutbare Hürde, um ans Open Air zu dürfen?

Ja, und verschiedene Länder experimentieren auch schon damit. In Österreich zum Beispiel kann nur zum Coiffeur gehen, wer einen negativen Corona-Test vorweisen kann. Das ist positive Anreizpolitik: Wer am öffentlichen Leben teilhaben will, soll sich testen lassen. Auch hier steht im Vordergrund, das Kollektivgut zu schützen: Wenn ich krank bin, schädige ich die Gemeinschaft. Insofern kann die Gemeinschaft mir auch Kosten auferlegen für meine Handlungen. Aus diesem Grund haben wir auch das Rauchen in den Kneipen verboten, denn man schadet damit ja nicht nur sich selber. Das vergessen die Leute, die gern von ihrer Autonomie sprechen.

Darum geht's

Der Bundesrat hat am Mittwoch einen 3-Phasen-Plan vorgestellt, mit dem die Corona-Massnahmen wieder aufgehoben werden sollen. Sind erst einmal 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung mittels Impfung gegen das Virus geschützt, sollen Geimpfte, Getestete und Genesene neue Freiheiten erhalten. Denkbar ist für sie der Zugang zu Bars, Discos und Grossanlässen. Ein dafür benötigtes Covid-Zertifikat soll im Juni bereitstehen. (gbi)

Was wäre, sollte ein solch selektiver Zugang auch für Lebensmittelläden oder den öffentlichen Verkehr kommen?

Das würde zu weit gehen. Dasselbe gilt, wenn Kinder von nicht geimpften Personen von der Schule ausgeschlossen würden – die können ja nichts dafür. Und nochmals: Es ist ja kein Ausschluss. Jeder kann an einer Veranstaltung teilnehmen, wenn er will. Man kann da nicht von Diskriminierung sprechen. Aber es ist denkbar, dass der Anwendungsbereich solcher Covid-Zertifikate ohnehin noch ausgeweitet wird.

Woran denken Sie da?

Ans Reisen zum Beispiel. Die Schweiz ist ja keine einsame Insel. Ich denke, recht schnell werden da verschiedene Länder jeweilige Regeln aufstellen. Das bedeutet dann: Wer kein Zertifikat will, der muss dann in der Schweiz bleiben.

Wieso ist Impfen überhaupt so ein Reizthema in der Gesellschaft?

Das habe ich mich auch schon gefragt – eine definitive Antwort habe ich aber nicht. Aus der soziologischen Forschung ist aber bekannt, dass wir immer individualistischer denken. Dabei sind wir in unseren modernen Gesellschaften extrem voneinander abhängig – weit mehr, als wir das früher waren. Wir werden in einer Organisation geboren, im Spital, und wir sterben in Organisationen, zuletzt das Bestattungsunternehmen. Dabei erkennen wir oft gar nicht mehr, dass wir auch Teil einer Gemeinschaft sind. Dabei: Wenn ich mein Kind nicht gegen Masern oder Mumps impfen lasse und es in die Schule oder den Kindergarten schicke, kann es dort auch andere Kinder anstecken.



Massnahmen-Skeptiker erhalten derzeit keine Bewilligungen für Demonstrationen. Ist das ein Problem, dass sie keinen Raum für ihre Anliegen erhalten?

Ja, das ist ein grosses Problem. Die demokratische Gesellschaft lebt vom Diskurs, und dieser wird, so finde ich, unter dem Corona-Regime zu wenig gepflegt. Nicht nur in der Schweiz, auch in anderen Ländern. Der Staat gibt eine Meinung vor, die meist einfach übernommen wird – die Meinungspluralität geht so verloren. Dasselbe Phänomen sehen wir in der Wissenschaft: Wenn es heisst «Die Wissenschaft empfiehlt …», ist das natürlich falsch. Auch dort gibt es heterogene Meinungen, von denen viele aber nicht angehört werden. Ich sehe da also schon ein Problem mit der Meinungsfreiheit.

Die Skeptiker stellen sich aber selber ein Bein, wenn sie sich an Kundgebungen nicht an Auflagen wie die Maskenpflicht halten.

Genau, da sind wir wieder bei der Frage des Kollektivguts. Das sind dann Leute, die nicht auf einen vernünftigen Diskurs eintreten wollen oder können. Da darf man sich nicht wundern, wenn niemand mit einem sprechen will. Die vernünftige Haltung wäre zu sagen: Auch wenn ich nicht an den Nutzen der Schutzmaske glaube, muss ich Rücksicht auf andere nehmen – ich kann nicht über deren Gesundheit bestimmen. Aber das sind ja die ganz Radikalen. Es gibt aber auch einen grossen Teil der Bevölkerung, der mit den Massnahmen ebenfalls unzufrieden ist, aber kein Gehör findet – das ist problematisch.