Fall «Carlos» Verwahrung für einen 24-Jährigen – wäre das verhältnismässig?

tmxh / SDA

1.11.2019

Mit lediglich 24 Jahren steht der Zürcher Gewalttäter «Carlos» vor der Verwahrung. Während der Staatsanwalt keinen anderen Weg sieht, fordert der Anwalt des Täters die Freilassung. Eine Expertin nennt Alternativen.

Der als «Carlos» bekannt gewordene Intensivtäter stand in dieser Woche vor Gericht. Dem 24-Jährigen droht die Verwahrung, der Staatsanwalt sieht keine Alternative. Der Anwalt von «Carlos» will ihn hingegen per sofort frei lassen. Das Bezirksgericht Zürich wird das Urteil in einer Woche eröffnen.

Natürlich sei es krass, einen erst 24-jährigen Mann für unbestimmte Zeit wegzusperren, sagte der Staatsanwalt. Aber «Carlos» sei ein Extremfall. Lasse man ihn im Justizvollzug, also in einem Gefängnis, brauche es so viel Personal und hohe Sicherheitsanforderungen «wie noch nie in der Schweiz».



«Verwahrung ist die einzige Lösung. Wobei das Problem natürlich nicht gelöst wird», räumte der Staatsanwalt ein. Doch die Öffentlichkeit müsse vor «Carlos» geschützt werden. Käme er frei, wäre aus seiner Sicht sicher, dass der junge Mann jemanden umbringen würde. Er beantragte eine Freiheitsstrafe von 7,5 Jahren. Folgt das Gericht seinem Antrag, würde diese zugunsten der Verwahrung aufgeschoben.

«Das Gericht wird sich auf jeden Fall die Frage der Verhältnismässigkeit stellen müssen», meint indes die Luzerner Oberrichterin Marianne Heer in einem Interview mit «Watson». Man müsse sich fragen: «Sind die Delikte wirklich derart schwer, dass man einen Freiheitsentzug, der unbestimmt lang und faktisch wohl auf Lebenszeit dauert, verantworten kann? Sie werden auch den ethisch-moralischen Aspekt anschauen: Der Straftäter ist noch sehr jung.» Auch hier müsse die Verhältnismässigkeit eine grosse Rolle spielen.

Die Verwahrung bedeute laut Heer in der Regel tatsächlich «Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit». Die Oberrichterin stellt klar: «Die Vollzugspraxis ist äusserst restriktiv. Auf zwei gesunden Beinen kommt niemand raus.» 

«Bester Fighter im Universum»

Der Staatsanwalt beantragt eine Verwahrung nach Artikel 64, also ein Wegschliessen ohne Therapie. Denn zu einer Therapie ist «Carlos» nicht bereit. Er wollte nicht einmal dem Psychiater Auskunft geben, weshalb das Gutachten anhand der Akten erstellt wurde.

Wie Oberrichterin Heer im «Watson»-Gespräch ausführt, besage die Praxis des Bundesgerichts in solchen Fällen, «dass man zum Urteilszeitpunkt sagen muss, ob der Täter in den nächsten fünf Jahren erkennbare Fortschritte macht und die Therapie wirken wird. Wenn man das nicht konkret sagen kann, gilt er als unbehandelbar. Es ist meiner Meinung nach fraglich, ob jemand als unbehandelbar bezeichnet werden darf, nur weil er im Moment nicht motiviert ist.»

Gutachter attestieren dem Kampfsportler psychische Probleme, konkret eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägt psychopathischen Wesenszügen. «Carlos» ist narzisstisch, leicht zu kränken und nimmt die ganze Welt als feindlich wahr.

Er selber sieht sich als «besten Fighter im Universum», als Killer, dem alles egal ist und der den Krieg gegen den Justizapparat aufgenommen hat. Um ein Ziel zu erreichen, kann er sich zwischendurch zwar zusammenreissen. Dann kommt aber schnell der nächste Rückfall, der für andere gefährlich werden kann.

Wie gefährlich «Carlos» ist, mussten in den vergangenen Jahren zahlreiche Mithäftlinge, Polizisten und Gefängnisaufseher am eigenen Leib erfahren. Die Anklageschrift listet 19 separate Vorfälle auf. Er wollte Gefängnismitarbeitende mit Urin übergiessen, er biss, kratzte, verprügelte und beschimpfte sie.

In der pinkfarbenen Arrestzelle

Die Justiz reagierte mit Härte und Repression. Diese grenzt nach Ansicht des Anwalts von «Carlos» an Folter. «Natürlich ist er kein Unschuldslamm», sagte der Anwalt. «Carlos» habe zweifelsohne Fehler gemacht. «Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Justiz die Grenze des zulässigen Handelns überschritten hat.»

Seit einem Jahr sitze «Carlos» alleine in einer pinkfarbenen Arrestzelle. Er sei an den Füssen gefesselt worden, habe keine Unterwäsche tragen und sich nicht duschen dürfen und auf dem Boden schlafen müssen. Und er habe Wasser und Brot erhalten.

Der Anwalt forderte ein «Ende der Härte», denn das mache alles nur noch viel schlimmer. «Carlos» habe in den Kampfmodus geschaltet und das Vertrauen in den Justiz-Apparat verloren. Eigentlich sei «Carlos» ein anständiger Mensch, eine Verwahrung unverhältnismässig.

Der Anwalt verglich seinen Mandanten mit einem Hund, der wegen schlechter Behandlung zubeisse. Statt einer Verwahrung forderte der Anwalt lediglich eine «angemessene» Freiheitsstrafe wegen Sachbeschädigung, Drohung und Beschimpfung.

Diese habe er mittlerweile ohnehin abgesessen. Deshalb sei der 24-Jährige sofort zu entlassen. Dann könne er endlich seinen Traum verfolgen, ein erfolgreicher Boxer zu werden.

«Carlos» müsse eine Chance erhalten, sich in Freiheit zu bewähren. Dies könne funktionieren, wie vor Jahren beim «Sondersetting» mit Thaibox-Unterricht, zeigte sich der Anwalt überzeugt.

Auch Oberrichterin Marianne Heer weiss im Interview mit «Watson» mögliche Alternativen: Schliesslich sei ihres Wissens nach nie versucht worden, «Carlos» «im Rahmen einer stationären Massnahme richtig zu therapieren. Ein gescheiterter Behandlungsversuch ist aber bis vor Kurzem beim Bundesgericht noch Voraussetzung gewesen dafür, dass man überhaupt jemanden verwahren konnte. «Leider hat das Bundesgericht diese langjährige konstante Praxis aufgehoben.»

Polizisten mit Musik erwartet

Das erste Mal mit der Justiz in Konflikt geriet «Carlos» im Alter von nur zehn Jahren, weil er im Verdacht stand, einen Brand gelegt zu haben. Dabei wurde der Knabe auch in Handschellen gelegt. Die Vorwürfe lösten sich jedoch in Luft auf.

Der Prozess am Mittwoch fand ohne Hauptdarsteller statt, weil sich dieser weigerte, aus der Zelle zu kommen. Als «Carlos» abgeholt werden sollte, begrüsste er die Polizisten mit lauter Musik und erhobenen Fäusten. Dann legte er sich hin und bewegte sich nicht mehr.

Der Druck, der auf dem Gericht lastet, sei aufgrund der öffentlichen Berichterstattung zwar sehr gross, so Marianne Heer. «Ich erwarte allerdings von einem Gericht, dass es diesem Druck standhalten kann, das gehört zu unserem Job. Wir müssen uns weiterhin objektiv verhalten. Es ist aber unter Umständen äusserst anspruchsvoll», so die Richterin. 

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