Neue SVP-Strategie im Reality Check «Es gibt eine Verdörflichung der Stadt»

Von Uz Rieger

5.8.2021

Eine Frau mäht den Rasen in ihrem Schrebergarten in Zürich. 
Eine Frau mäht den Rasen in ihrem Schrebergarten in Zürich. 
Bild: Keystone

Die SVP beackert in der Gunst um Wählerstimmen den Stadt-Land-Graben. Ob sie dabei auch wirklich das richtige Feld bearbeitet, ist laut dem Schweizer Politgeografen Michael Hermann nicht ganz ausgemacht. 

Von Uz Rieger

Die SVP drischt auf «linke Städte» ein, denen SVP-Präsident Marco Chiesa in seiner Ansprache zum 1. August «Schmarotzer-Politik» und «Zwängerei» vorwirft. Früher habe es geheissen: «Stadtluft macht frei», so Chiesa. Heute hingegen liege die Freiheit auf dem Land. Das Kalkül der SVP-Strategie scheint offensichtlich: Das Herausstellen einer Differenz zwischen Stadt und Land soll der Partei Wählerstimmen bringen.



Wie es um den Stadt-Land-Graben in der Schweiz bestellt ist und ob die Strategie aus soziologischer Sicht aufgeht, hat «blue News» den Politgeografen und Leiter des Forschungsinstituts Sotomo Michael Hermann gefragt. 

Herr Hermann, ist der Stadt-Land-Graben in der Schweiz wirklich so gross, dass man politisch daraus Kapital schlagen kann?

Michael Hermann: In der Schweiz gab es immer eine Vielzahl von Spannungsfeldern wie Konfession oder Sprache. Mittlerweile verlaufen die meisten politischen Auseinandersetzungen aber tatsächlich zwischen Stadt und Land. Aus Sicht der SVP ist es da naheliegend, die rot-grünen Kernstädte als politische Zielscheibe zu verwenden. Sie verkörpern vieles, was konservativ Denkende als Irrweg anschauen: Diese Grossstädte stehen etwa bei Covid-19 oder beim Klima für strenge Massnahmen oder bei Gender-Fragen für eine progressivere Politik. Viele, die ausserhalb der Städte wohnen, stören sich auch an deren Politik gegen den Autoverkehr.

In den letzten Abstimmungsvorlagen trat der Gegensatz zwischen Stadt und Land ja deutlich zutage. Was waren die Gründe dafür?

Es ist kein Zufall, dass der Stadt-Land-Graben gerade bei den Agrarinitiativen und dem Jagdgesetz besonders tief war. Hier geht es nämlich nicht nur um unterschiedliche Werte wie etwa bei der Gender-Frage. Für viele Menschen auf dem Land entstand hier der Eindruck: die Städte greifen direkt unsere Lebenswelt an. Die Wölfe sind ja typischerweise nicht in der Stadt, sondern auf dem Land unterwegs.

Zur Person
Keystone

Michael Hermann ist Politgeograf und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Sotomo.

Schon nach der Zweitwohnungsinitative und dann beim Jagdgesetz fanden viele, sie würden von den dominanten Städten überstimmt. Das hat dann auch bei den Agrarinitiativen zu dieser massiven Mobilisierung auf dem Land geführt mit dem Effekt, dass diesmal das Land die Stadt überstimmt hat. Tatsächlich setzt sich das Land insgesamt sogar etwas häufiger durch als die Stadt. Eigentlich müsste das den Gegensatz ja abschwächen, weil nicht immer dieselbe Seite sich durchsetzt. Doch weil die Städte als Zentren so sichtbar sind, werden sie dennoch als dominant wahrgenommen, und das versucht die SVP auszunützen.

Ist am Vorwurf der SVP etwas dran, dass das Land die Städte finanziert? Oder ist es womöglich sogar anders herum?

Hier muss ich etwas einschieben: Was verstehen wir überhaupt unter Stadt und Land? Wenn wir einfach Stadt und Land gegenüberstellen, dann gehören zum städtischen Raum nämlich auch alle grossen Ballungsräume und Agglomerationen wie Zürich oder Genf-Lausanne. Und das sind ohne Zweifel die wirtschaftlichen Motoren dieses Landes. Sie tragen auch wesentliche Teile der Steuerlast und leisten Transferzahlungen an den ländlichen Raum.

Betrachten wir dagegen nur die rot-grünen Kernstädte isoliert, profitieren diese durchaus von Lastenabgaben, Unternehmenssteuern und vielen staatlichen Stellen. Diese isolierte Sicht ist aber eine Milchbüechli-Rechnung. Die Ballungsräume funktionieren ja nur mit ihren Kernstädten und den dortigen Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Ohne Zentren wäre auch die Schweiz als Ganzes arm dran.

Hier sehe ich übrigens eine politische Fehleinschätzung bei der aktuellen SVP-Strategie. Die rot-grünen Kernstädte mögen sich als Schreckbilder für viele Bürgerliche eignen, wenn daneben jedoch das Land als Vorbild hingestellt wird, wirkt das Ganze zwiespältig. Nur eine Minderheit lebt auf dem Land und auch viele Bürgerliche wissen, dass die Wertschöpfung in den Ballungsräumen am grössten ist.

Die meisten Menschen leben inzwischen ohnehin in der Agglomeration – wo lassen sich diese hinsichtlich ihrer Einstellungen verorten? 

Wir reden immer von Stadt und Land. Tatsächlich leben die allermeisten Menschen in der Schweiz irgendwo dazwischen. Eine Mehrheit lebt in der Agglomeration, viele aber auch in Kleinstädten, die ganz anders ticken als die hippen Grossstadtkerne, an die wir ja oft denken, wenn wir «Stadt» sagen. Selbst im ländlichen Raum pendeln heute viele in die Stadt zum Arbeiten. Es gibt deshalb eigentlich gar keinen Stadt-Land-Graben, sondern ein Kontinuum von sehr städtisch bis sehr ländlich mit entsprechend abgestuften Einstellungen.

Müsste die SVP dann eigentlich nicht in der Agglomeration auf Stimmenfang gehen?

Ja, genau. Es ginge für die SVP darum, die Leute in der Agglomeration abzuholen, die rechts der Mitte stehen, bürgerlich sind. Die finden teils auch, dass die Städte eine verkehrte Politik machen, etwa weil sie nicht mehr so einfach mit dem Auto in die Stadt fahren können. Es gibt eben auch in der Agglomeration Leute, die die Politik in den Kernstädten kritisieren. Die müsste man dann aber auch direkt ansprechen. Da kann man nicht einfach sagen: «Das Land ist gut.» Diese Leute leben ja nicht auf dem Land und sind tatsächlich auch städtisch orientiert. Sie könnten sich dann auch als Teil der Kritisierten sehen.

Sie finden also, dass die SVP mit der Stadt-Land-Differenz, die sie da aufmacht, ein Eigentor schiessen könnte?

Im Ansatz finde ich das nicht, denn das ist der grosse Graben: Die Städte sind vielen Bürgerlichen zu links geworden, zu grün, zu feministisch oder was auch immer. Das sind die grossen Themen, die heute die politische Debatte dominieren. Grundsätzlich ist die Stossrichtung aus Sicht der SVP nicht verkehrt und auch dass man darüber spricht, zeigt ja, dass es einen Nerv trifft.

Aber eben: nach meiner Meinung verwässert die Zweiteilung, in der man das «gute Land» und die «schlechte Stadt» gegenüberstellt, die spezifische Kritik. Das führt dazu, dass nun eine andere Debatte geführt wird, nämlich genau die: Wer ist eigentlich der Wirtschaftsmotor, wer schmarotzt und wer nicht. Durch dieses Framing hat die SVP das Thema auf ein Feld geführt, wo das Land fast nur verlieren kann.

Vergrössert sich der Stadt-Landgraben derzeit denn? 

Es ist spannend, denn es gibt da eine doppelte Entwicklung. Einerseits ist der Graben in der politischen Wahrnehmung grösser geworden. Das hängt auch damit zusammen, dass es eine Art Selbstsortierung der Gesellschaft gibt: Leute, die das Umfeld positiv bewerten, ziehen in die Stadt und andere verlassen sie, weil sie eine andere Umgebung wünschen und andere Werte haben.

Und natürlich schaukelt sich das auch noch auf, in dem Masse, wie man diesen Graben thematisiert und vertieft. Die SVP trägt also auch noch etwas dazu bei, dass der Graben tiefer wird, weil man dann alles über diesen Kamm schert.

Aber das ist noch nicht alles?

Wenn man sich das andererseits soziologisch anschaut, ist der Graben eigentlich viel kleiner als früher, als das noch wirklich geschlossene Welten waren. Die Mobilität hat wahnsinnig zugenommen und auch mit den digitalen Kommunikationsmöglichkeiten ist der Raum stark geschrumpft. Heute kann man etwa überall die gleichen Angebote im Internet bestellen und auch die Medienlandschaft hat sich umorganisiert.

In der Stadt gibt es heute Phänomene wie «Urban Gardening» und es werden mehr kleinräumige und gemeinschaftliche Dinge gemacht. Das ist auch dank der Digitalisierung und Apps möglich, womit man sich beispielsweise in der Siedlung austauschen kann. Es gibt also eine Verdörflichung der Stadt und es gibt dort auch immer mehr Kinder. Früher waren die Städte eher die Orte der Kinderlosen und die Kinder waren auf dem Land.

Zugleich gibt auch eine gewisse Verstädterung des Landes. Dort sind die Leute inzwischen auch individueller unterwegs, gehen weniger in die Vereine und die dörflichen Gemeinsachaften verlieren an Stärke.

Politisch gibt es also die Sortierung und durch die ganze Filterblasenbildung in den sozialen Medien werden solche Konflikte geschürt und geschärft. Aber wenn man den Alltag anschaut, dann sind die Gräben eigentlich nicht so gross. Es ist also eine ideologische und kommunikative Verhärtung. In der heutigen Gesellschaft wollen Gleichgesinnte aber halt auch mehr unter sich bleiben – nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch räumlich.

Wie bedeutsam ist der Stadt-Land-Gegensart in der Schweiz denn überhaupt im Vergleich zu anderen Faktoren?

Früher gab es in der Schweiz tatsächlich viele Gräben: Sprache, Konfession, Arbeiterregionen versus Regionen der Gutverdienenden etwa. Viele dieser Gräben haben heute an Bedeutung verloren. Dafür dreht es sich immer mehr um diesen Stadt-Land-Gegensatz. Es gibt aber natürlich auch Gräben, die halt nicht so sichtbar sind. Die räumlichen Gräben sind allerings auch bei Abstimmungen gut sichtbar: Die haben dafür gestimmt, die anderen dagegen, zeigt sich auf jeder Abstimmungskarte. Aber auch der Generationengegensatz hat zuletzt wieder an Bedeutung gewonnen, nachdem er lange sehr stark verloren hatte.

Auch Geschlechterunterschiede bleiben in vielen Bereichen bestehen. Und insbesondere auch der Bildungsgegensatz. Gerade der Stadt-Land-Gegensatz ist zu einem guten Teil auch ein Bildungsgegensatz. Die Wissenschaft hat bei den Städtern – auch weil sie wissenschaftsnäher sind, ein stärkeres Gewicht. Die aktuelle Wissenschaftsskepsis bei einem grossen Teil der Bevölkerung findet sich typischerweise auf dem Land, weil hier die Leute leben, die «nicht so studiert» sind. Gerade der Bildungsgegensatz ist auch ein wesentlicher Teil des Stadt-Land-Grabens, aber man spricht das nicht so gern aus.