Mitholz zwischen Verständnis und Trotz «Dann müssen sie sich mich halt enteignen»

Von Lia Pescatore

1.1.2022

Munitionslager Mitholz: VBS startet Verfahren für erste Arbeiten

Munitionslager Mitholz: VBS startet Verfahren für erste Arbeiten

In Mitholz BE will der Bund im kommenden Jahr mit ersten baulichen Massnahmen die Räumung des Armee-Munitionslagers vorbereiten, das 1947 teilweise in die Luft flog. Noch in diesem Monat startet er ein militärische Baubewilligungsverfahren. Während rund zehn Jahren müssen die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz ab 2030 ihre Häuser aus Sicherheitsgründen verlassen. Erste Mitholzer werden aber bereits ab 2025 gehen müssen, wie seit Längerem bekannt ist. Dies, weil ab 2026 die Nationalstrasse und die Bahnlinie in Richtung Wallis besser geschützt werden sollen.

24.09.2021

Ein Jahr ist vergangen seit der Schock-Nachricht, dass Mitholz evakuiert werden soll. Der Bund informiert laufend über seine Pläne – doch nicht alle Bewohner ziehen mit.

Von Lia Pescatore

1.1.2022

Mitholz wird evakuiert. Für mindestens zehn Jahre müssen die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Heimat verlassen, damit das Munitionslager geräumt werden kann. Das steht seit letztem Jahr fest.

Seither leben die Mitholzerinnen und Mitholzer mit dem Wissen, bald wegziehen zu müssen – und mit all den Unklarheiten und Unsicherheiten, die Viola Amherds Video-Ankündigung mit sich brachte.



Das Beste von 2021

Zum Jahresende bringt blue News die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 24. September 2021.

Welche Gefahr geht wirklich vom Munitionslager aus, das seit 70 Jahren keinen Wank gemacht hat? Müssen wirklich alle gehen? Fragen, auf die der Bund bisher keine abschliessende Antwort gibt. Auch nicht am Donnerstag bei der Standortbestimmung. 

Alteingesessene wollen bleiben

Matthias Matti, der beim VBS für die Unterstützung der Bevölkerung zuständig ist, gab bei der Medienkonferenz zu, dass die Hilfsangebote die Bevölkerung nicht erreichen. Nicht nur auf nationaler Ebene gebe es Probleme, zu den Leuten vorzudringen – auch auf kommunaler Ebene kämpft Gemeindepräsident Roman Lanz um die Gunst der Mitholzer*innen.

Er sei froh, dass an den Informationsveranstaltungen am Donnerstag etwa 120 der rund 170 Bewohner teilgenommen hätten. Der Austausch sei wichtig: Nur so könne die Gemeinde die Bedürfnisse und Sorgen der Bevölkerung ausloten. Doch nicht alle setzen auf Austausch.

Es sind vor allem die Alteingesessenen, die fernbleiben. Ihre Familien leben seit Generationen im Dorf, sie sind mit dem Mahnmal der Explosion gross geworden und haben gelernt, damit zu leben.

Familienvater: «Gehen ja, aber wann?»

Auf einem Rundgang im Dorf treffe ich mehrere von ihnen – wie etwa den Familienvater, der vor seinem Haus gleich beim Bahnhof Mitholz-Blausee Brennholz für die kalten Tage stapelt. Kinderschuhe türmen sich vor der Haustür, im Garten steht ein Trampolin.

Er ist in Mitholz aufgewachsen, erklärt der Mann. Vor dreieinhalb Jahren hat er das Haus gekauft – ein halbes Jahr bevor ein Expertenbericht zu dem Schluss kam, dass vom Munitionslager ein hohes Risiko ausgehe.

Dass sie gehen werden, sei klar, «die Frage ist nur noch wann». Schon in wenigen Jahren wird gleich vor der Haustür eine massive Galerie zum Schutz der Bahnlinie gebaut. Es lohne sich kaum, die Kinder hier einzuschulen, da man ohnehin bald gehen muss.

Am Stammtisch: «Dann müssen sie sich mich halt enteignen»

In der Dorfbeiz hingegen erzählt uns ein älterer Herr, dass er sich weigere, wegzuziehen: Er lebe schliesslich schon «seit ewig» hier. Die Primarschule habe er hier besucht und anschliessend das Gymnasium.  Beide sind schon lange geschlossen. Gehen will er nicht, schon gar nicht nach Kandergrund. «Dann müssen sie sich mich halt enteignen», sagt er polternd und mit klarem, festem Blick.

Auf diese Begegnungen angesprochen sagt Gemeindepräsident Lanz, es gebe halt Menschen, die resistent seien. Die Zeit, welche bis zur definitiven Räumung ab 2031 bleibt, sei deshalb «ein Geschenk», weil man die Menschen Schritt für Schritt und ohne Druck abholen könne.

Aber: «Bisher haben wir das Rezept dafür noch nicht gefunden», sagt Lanz ein wenig ratlos. Es könne daran liegen, dass die beiden Dörfer Kandergrund und Mitholz trotz gemeinsamer Gemeinde nie wirklich zueinander gefunden hätten. 

Kommunikation auf Augenhöhe

Als verbindendes Glied  zwischen Behörden und Bevölkerung soll die Interessengemeinschaft Mitholz fungieren. Die IG sei gegründet worden, um die Räumung des Munitionslagers durchzusetzen. Für die nächsten Generationen, sagt Präsident Karl Steiner: Es soll nicht länger weggeschaut werden. «Damals ging man davon aus, dass die Evakuierung vielleicht ein Jahr dauern würde.»

Die Ankündigung 2020 sei für alle ein Schock gewesen: Auch Steiner hatte sich darauf eingestellt, seine Pension in Mitholz zu verbringen. Er hat ein Bienenhaus im Garten eingerichtet, das er durchs Küchenfenster beobachten kann. Dahinter liegen Obstbäume und offene Feld. «So etwas findet man kein zweites Mal.»

Doch Steiner hat sich damit abgefunden, zu gehen. Er vertraut der Einschätzung des Bundes, dass es keine alternative Lösung gebe. Auch als ein externer Experte die Verkapselung als effizientere Lösung plötzlich wieder ins Spiel gebracht wurde.



Die Räumung für die Zukunft von Mitholz

Denn mit der Interessengemeinschaft habe man einen Weg gefunden, mit dem VBS auf Augenhöhe zu kommunizieren. In Mitholz hat er viel ausgehalten, die Lawinenschäden, die zehnjährige Neat-Baustelle, die gleich bei seinem Garten ansetzte. Noch so eine Baustelle will er nicht miterleben.

Nächstes Jahr beginnen die ersten Bauarbeiten. Gemeindepräsident Roman Lanz hofft, dass die Umstände dann den besonders Resistenten die Augen öffnen – damit eine Enteignung gar nicht erst Thema wird. «Am Ende muss jeder selbst wissen, was für ihn erträglich ist».

Die Räumung des Lagers soll dem Dorf eine leichtere Zukunft ermöglichen. Das hält sich auch IG Mitholz-Präsident Karl Steiner vor Augen: «Ich hoffe, dass meine Grosskinder nach Ende der Räumungsarbeiten in dieses Haus zurückkehren» – er selbst werde es ja wohl nicht mehr können.