Deutsche Sicht auf Schweizer Lockerungen Banger Blick über die Grenze

Von Sven Hauberg, München

15.4.2021

So wie im vergangenen August dürfte es in Zermatt bald wieder aussehen.
So wie im vergangenen August dürfte es in Zermatt bald wieder aussehen.
Bild: Keystone

Die Schweiz macht sich locker, trotz hoher Fallzahlen und geringer Impfquote. Als Deutscher beobachtet man das mit Neid – und Sorge.

Von Sven Hauberg, München

15.4.2021

Auch in deutschen Medien lief am Mittwoch die Nachricht über die Ticker: Die Schweiz macht auf! Zumindest ein bisschen. Ab 19. April darf die Aussengastronomie wieder Gäste bewirten, die Kinos und Theater dürfen Zuschauer empfangen, die Fitnessstudios ihre Mitglieder wieder zum Schwitzen bringen. 

Wie anders ist doch die Lage beim grossen Nachbarn Deutschland! Während sich die Schweiz locker macht, wird zwischen Bayern und Schleswig-Holstein, vor allem aber im politischen Berlin, über verschärfte Massnahmen diskutiert. Und das, obwohl die Corona-Lage in der Schweiz deutlich dramatischer ist als in Deutschland. Verkehrte Welt? 

Die Schweiz, kommentierte die deutsche «Tagesschau» nicht ohne ein wenig Häme, stehe «derzeit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nicht eben besonders gut» da: «Während sich das Impftempo in Deutschland in den letzten Tagen mithilfe der Hausärzte leicht verbesserte, hat es sich in der Schweiz leicht verlangsamt.»



Tatsächlich meldete Deutschland – trotz des Hickhacks um die Vakzine von AstraZeneca und Johnson&Johnson – zuletzt einen Impfrekord nach dem nächsten. Seitdem nicht mehr nur in Impfzentren Spritzen in willige Oberarme gejagt werden, sondern auch bei den Hausärzten, geht es voran mit der ehrgeizigen Kampagne.

Verwundert reibt man sich die Augen

Mehr als eine halbe Million Dosen werden im Schnitt jeden Tag verimpft. In der Impfstatistik  liegen beide Länder, was die Zahl der verabreichten Dosen pro 100 Einwohner betrifft, in etwa gleich auf. Bald schon aber könnte Deutschland die Schweiz abgehängt haben.

Und dann sind da noch die täglichen Fallzahlen. Etwas mehr als 2600 laborbestätigte Coronavirus-Infektionen meldete das BAG am Mittwoch. In Deutschland lag der Wert am Donnerstagmorgen, bezogen auf die Bevölkerungszahl, ähnlich hoch. Und hoch – das bedeutet in den Augen vieler Deutscher: zu hoch.



Unter diesen Voraussetzungen öffnet die Schweiz also Kinos und Co. Als Deutscher reibt man sich da verwundert die Augen – verwundert, aber auch ein wenig neidisch. Denn einerseits sind die Corona-Regeln nördlich des Bodensees deutlich strenger als in der Schweiz – und andererseits auch maximal undurchsichtig.

Beispiel München, Heimatstadt des Autors dieses Textes. In der bayerischen Landeshauptstadt trat am Mittwoch die sogenannte «Notbremse» in Kraft. Weil an drei Tagen in Folge mehr als 100 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner gemeldet wurden, wurden private Treffen eingeschränkt, es gilt eine Ausgangssperre zwischen 22 und 5 Uhr, Theater, Kinos, Restaurants – kurzum: alles, was Spass macht – haben geschlossen.

Föderales Wirrwarr

Ein paar Kilometer ausserhalb der Stadt aber, in den benachbarten Landkreisen, könnte die Lage schon morgen wieder eine ganz andere sein. Und übermorgen in München selbst.

Um den föderalen Wirrwarr entgegenzutreten, will der Bund nun mehr Kompetenzen an sich ziehen. Angesichts des Flickenteppichs an Corona-Massnahmen einerseits ein nachvollziehbarer Entscheid, aber eben auch ein hochumstrittener. Denn es wäre einer der grössten Eingriffe in das politische System des Landes seit Gründung der Bundesrepublik vor 72 Jahren.



Die Schweiz, ein Sehnsuchtsland also für all die coronamüden Deutschen? Nicht wenige Deutsche träumen wohl von einem kühlen Bierchen auf irgendeiner Aussenterrasse in Zürich, Bern oder sonst wo im Land. Zumal vor Kurzem erst ein offener Brief deutscher Aerosolforscher aufhorchen liess, die mahnten: Drinnen lauert die Gefahr, nicht draussen!

Sparsamkeit

Dass in der Schweiz trotz der gestern angekündigten Massnahmen vier von fünf Richtwerten für Lockerungen nicht erfüllt sind, dürfte in Deutschland hingegen kaum einer registriert haben. Ebenso wenig, dass der Bundesrat höchstselbst von einer fragilen Situation sprach, als er die Öffnungen verkündete.



Und überhaupt: So sehr man in Hamburg, Köln oder Berchtesgaden über all die Einschränkungen im öffentlichen und privaten Leben stöhnen mag, so unumstritten sind die Massnahmen. Im März etwa sagten einer Umfrage des ZDF-Politbarometers zufolge mehr als zwei Drittel der Deutschen, die Massnahmen seien angemessen oder müssten gar noch härter ausfallen. Nur ein Viertel hielt sie für übertrieben.

Jetzt, da die Zahlen weiter steigen und die Krankenhauschefs vor überfüllten Intensivstationen warnen, dürfte die Zahl der Massnahmen-Skeptiker noch weiter sinken. Ja, der Blick Richtung Schweiz ist voller Neid – aber auch voller Sorge. Gut möglich, dass er bald in Häme umschlägt.

Man erinnere sich: Schon zu Beginn der Pandemie machte die Schweiz einiges anders als Deutschland und andere Länder, liess offen, was andernorts schliessen musste. Auch, als im November vergangenen Jahres Deutschland in den zweiten Lockdown ging. «Ein Grund dürfte die Angst vor ökonomischen Verlusten sein», kommentierte seinerzeit die «Süddeutsche Zeitung». Und die US-Zeitschrift «Foreign Policy» sprach aus, was wohl auch heute wieder manch einer denkt: «Die Schweiz stellt Sparsamkeit vor Menschenleben.»