Feudale Eidgenossenschaft Auch die Schweiz hat ihre Adligen

Von Gil Bieler

18.4.2021

Die Bundesräte Alain Berset (l.) und Ueli Maurer an den Von-Wattenwyl-Gesprächen 2018 in Bern.
Die Bundesräte Alain Berset (l.) und Ueli Maurer an den Von-Wattenwyl-Gesprächen 2018 in Bern.
Bild: Keystone/Peter Klaunzer

Die britische Monarchie war diese Woche auf allen Kanälen präsent. Ein guter Anlass, um sich auf den Schweizer Adel zu besinnen – der in der Legendenbildung des Landes so verschmäht wird.

Von Gil Bieler

18.4.2021

Der Tod und die Beisetzung von Prinz Philip haben auch die Schweiz bewegt. Allein das prunkvolle Schloss Windsor, der Pomp, das strikte Zeremoniell – auf Schweizer Betrachter wirkt das wie aus der Zeit gefallen. Und reichlich fremd, denn hierzulande gab es doch gar keinen Adel – so zumindest lautet die landläufige Annahme. Dabei handelt es sich freilich um reine Legendenbildung.

«Es gab die Adligen nicht, weil es sie nicht geben durfte», schreibt der Autor Andreas Z’Graggen in seinem Buch «Adel in der Schweiz». Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert habe sich die Mär durchgesetzt «von den guten, freiheitsliebenden Hirten aus den Waldstätten, die die bösen Habsburger und ihre üblen Vögte umgebracht oder vertrieben und seither als demokratisch gesinnte Eidgenossen das Land regiert hatten».

Vielmehr gab es auch in der Schweiz noble Familien, die über Jahrhunderte eine beherrschende Rolle innegehabt hätten. Die Berner Familie von Wattenwyl etwa besass zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert über 60 Burgen, Schlösser und Herrensitze.

Auf einen Schlag alles verloren

Für sein Buch hat Z’Graggen Nachfahren solch geschichtsträchtiger Familien getroffen. Entstanden sind lesenswerte Porträts und Gespräche. So erzählt Michael von Hallwyl etwa aus der bewegten Geschichte seiner Familie, die ihre Burg im Aargauer Seetal fast 900 Jahre hielt – so lange wie wohl keine andere Familie hierzulande. Doch mit dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft war alles vorbei.

«1798 haben wir alle Rechte verloren», erzählt von Hallwyl, wobei er in der neuen Ordnung, die Napoleon der Schweiz verpasste, «ein notwendiges Korrektiv» sieht. Manche seiner Vorfahren habe es daraufhin im Aargau in die Politik verschlagen, andere ins Ausland: Wie seinen Vater, der 1925 nach Namibia auswanderte. «Er besass eine Farm, ich bin da geboren und aufgewachsen», berichtet von Hallwyl. «Unsere adlige Herkunft spielte da keine Rolle, mein Vater arbeitete hart auf der Farm, um bestehen zu können.»

Die Folgen historischer Umwälzungen werden hier auf die persönliche Ebene heruntergebrochen.

Lieber im Wald als unter Aristokraten

Ein anderer Gesprächspartner ist Bernhard-Pfyffer-Feer. Er rätselt selbst darüber, wie seine Familie einst zur mächtigsten von Luzern werden konnte: «Weder weiss man genau, woher sie kamen, noch ist mir im Detail bekannt, wie meine frühen Vorfahren zu Amt und Würden gelangten», erzählt er. «Sicher lief vieles übers Geld. Die Pfyffer waren erfolgreiche Tuchhändler und Müller, das lässt sich schon im Wappen erkennen.»

Auf die Frage: «Was bedeutet es Ihnen, ein Aristokrat zu sein?», antwortet der Forstingenieur: «Gar nichts.» Denn: «Für den Ludwig Pfyffer kann ich nichts, und das Schloss in Buttisholz habe ich geerbt.» Er könnte sich zwar Freiherr nennen, aber «mich interessieren weder Titel noch Adel. Ich verkehre auch nicht bewusst in diesen Kreisen. Mir ist es wohler im Wald und auf der Jagd».

Und obschon ihm so wenig an der Familiensaga liegt, so entkam er ihr doch nicht ganz: Aus seiner Kindheit erzählt Pfyffer-Feer, dass sie nach aussen gelebt hätten wie alle anderen. Gleichwohl sei er streng erzogen worden, und es habe Zwänge gegeben im Sinne von: «Das gehört sich nicht für einen Pfyffer.»

Das Buch schlägt den Bogen von der Gegenwart in die Vergangenheit. Und ruft in Erinnerung: Ja, es gab auch hierzulande Adelsfamilien. Auch wenn daran weniger erinnert als anderswo.

Die eidgenössischen Oligarchen

Eine entscheidende Rolle bei der Geschichte des Schweizer Adels schreibt Z’Graggen Rudolf IV. von Habsburg zu, der 1273 deutscher König wurde und sich in der Folge in Richtung Osten orientierte. In den eidgenössischen Orten – den Vorgängern der Kantone – nutzten aufstrebende Führungsgruppen daraufhin ihre Chance auf den eigenen Machtausbau. Das bekannteste Beispiel bildete Luzern, das 1386 in Sempbach habsburgischen Besitz überfiel und sich in der berühmten Schlacht gegen Habsburg durchsetzte.

Auf diese Weise etablierten sich Patriziate von emporgestiegenen Handwerkern und Kaufleuten, die nach und nach die Macht übernahmen und die wichtigsten Ämter unter sich aufteilten. Z’Graggen spricht hierbei von einem «Trend der Oligarchisierung», der sich in allen Städten der Alten Eidgenossenschaft feststellen liess.

Der alte Adel derweil befand sich im Niedergang. Die Gründe dafür waren vielfältig, wie auch Thomas Maissen in seinem Buch «Geschichte der Schweiz» beschreibt. Krieg oder Hunger gehörten dazu, viele passten sich aber auch einfach den sich ändernden Verhältnissen an und mischten sich unter die neu entstandenen eidgenössischen Eliten.

Aber, so hält es auch Maissen fest: Das Schweizer Selbstverständnis vom Land der freien Bauern, die alle Adligen aus dem Land gejagt hätten, sei nichts weiter als ein Mythos.


Bibliografie: Andreas Z’Graggen: «Adel in der Schweiz. Wie Herrschaftsfamilien unser Land über Jahrhunderte prägten.» Verlag NZZ Libro. 232 Seiten, rund 54 Franken. ISBN: 978-3-03810-334-9.