Ich und die Stasi – Teil 1 Warum ich 30 Jahre später wissen will, was die DDR-Spitzel über mich wussten

Von Andreas Fischer

1.7.2021

Die Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen: Noch immer beeinflussen Stasi-Akten persönliche Schicksale. (Symbolbild)
Die Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen: Noch immer beeinflussen Stasi-Akten persönliche Schicksale. (Symbolbild)
Keystone

Ist es nicht langsam gut mit der Stasi? Nein, findet der Autor. Nach drei Jahrzehnten kommt Neugier auf und er will nun endlich wissen, ob er für den DDR-Inlandgeheimdienst interessant genug war. 

Von Andreas Fischer

Das Thema Stasi ist nach 30 Jahren durch? Noch lange nicht. Zuletzt zeigte ein ziemlich guter «Tatort», dass die Wunden durch die Stasi-Methoden auch nach Jahrzehnten nicht ganz verheilt sind.

Dass die Aufarbeitung der jüngeren gesamtdeutschen Geschichte noch nicht abgeschlossen ist, äussert sich auch darin, dass jeden Monat immer noch um die 4500 Menschen Anträge auf Einsicht in ihre Stasi-Akten stellen. Dafür war im gerade wiedervereinten Deutschland extra die Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen (BStU) geschaffen worden.

Zurück zum «Tatort»: Darin ging es um Stasi-Methoden während der Messen in Leipzig. Der DDR-Geheimdienst rekrutierte damals Hunderte Frauen, die westdeutsche (Geschäfts-)Männer im «grössten Bordell Europas» beim bezahlten Sex bespitzeln sollten.

Die Stasi ist immer noch präsent

Ich selber lebte Anfang der 1980er-Jahre auch ein halbes Jahr in Leipzig: Meine Mutter lag wegen Komplikationen während einer Schwangerschaft im Krankenhaus. Weil mein Vater in Leipzig studierte, zog ich für ein paar Monate zu ihm ins Studentenwohnheim. Ein grosses Abenteuer für einen Erstklässler aus dem Zonenrandgebiet, zumal in einer aufregenden, grossen Stadt mit Tram und Leuchtreklame.

Dass Leipzig im Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), wie die Stasi offiziell hiess, stand, war mir natürlich nicht bewusst. Auch nicht, dass ich mich irgendwann persönlich mit der Stasi würde beschäftigen müssen.

Ein paar Jahre später, nach der Wende, als die Freude über die D-Mark der Ernüchterung wegen der Arbeitslosigkeit gewichen war, gab es immer wieder Anfeindungen gegen mich und meine Familie: «Dein Vater war bei der Stasi, du Sohn eines Spitzelschweins.»

Mein Vater, ein Spitzel?

Das konnte ich nicht einfach wegstecken. Doch war meine Wut immer auch gepaart mit Zweifeln: «Was, wenn es stimmt?» Schliesslich wurden in den 1990er-Jahren immer wieder – auch prominente – inoffizielle Mitarbeiter enttarnt. Der Vater meiner ersten festen Freundin hat sich wegen seiner Stasi-Vergangenheit das Leben genommen.

Man wusste nie genau, wer beim MfS war. In meinem Landkreis wurden in den 1980er-Jahren 443 IM geführt. Das entspricht einer Quote von etwa einem Spitzel pro 100 Einwohner.



Als die Zweifel zu gross wurden, habe ich meinen Vater gefragt: «Warst du IM bei der Stasi?» Er hat mir versichert, es nicht gewesen zu sein, mir aber auch erzählt, dass er ganz offiziell Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit hatte.

Mein Vater war zehn Jahre lang bei den Grenztruppen der DDR, dem Teil der Armee, der die Mauer bewachte und gnadenlos auf Republiksflüchtlinge schoss. Er war dafür zuständig, dass geheime Verschlusssachen wirklich geheim blieben und verschlossen wurden und führte Protokoll über Verstösse gegen Dienstanweisungen. Einmal pro Woche brachte er das Protokollbuch zur Auswertung in die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit. Wie gesagt: ganz offiziell.

Die Zweifel bleiben

Die Sache mit der Stasi war für mich damit erledigt – vorläufig. Ich hatte dann auch andere Dinge zu tun: Abitur, Studium, Leben. Doch die Zweifel kamen regelmässig für kurze Zeit zurück und ich fragte mich irgendwann, ob es eigentlich auch eine Akte über mich gab. Ich war zwar beim Fall der Mauer erst 14 – aber man weiss ja nie.

Meine Kindheit war ideologisch geprägt, ich war ein engagierter Pionier, ein kleiner Funktionär sogar: Im Freundschaftsrat, einer Art politisch klar konturierter Schülervertretung, war ich Agitator – und mit zehn Jahren «zuständig für politische Aufklärungsarbeit» an meiner Schule. Das brachte einige Belohnungen mit sich.

Zum Beispiel wurde ich mit einer sechswöchigen Reise in die Pionierrepublik «Wilhelm Pieck» ausgezeichnet. Nur wenige durften in das grösste Pionierlager der DDR. Sechs Wochen mit Gleichaltrigen weg von zu Hause (und ziemlich viel Blödsinn anstellen) – für mich gab es nichts Schöneres. Ein Jahr später wurde es noch exklusiver und ich als Teilnehmer am Pioniertreffen in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) ausgewählt.

Lange Schatten der Vergangenheit: Die ehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin heute.
Lange Schatten der Vergangenheit: Die ehemalige Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Berlin heute.
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Wer verriet was über mich?

Dass für diese Reisen unter anderem eine «zweifelsfreie Gesinnung» nötig war, wusste ich nicht. Auch nicht, wer sie überprüft haben könnte. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, danach gefragt worden zu sein. Vielleicht reichte es, im Freundschaftsrat zu sein. Oder dass meine Eltern Mitglieder in der SED waren.

Vielleicht aber auch nicht. Und dann muss irgendjemand irgendwelche Informationen über mich gesammelt und ausgewertet haben. Zumal ich eine Ur-Oma in Wiesbaden hatte, die meine Mutter per Ausnahmegenehmigung 1987 sogar besuchen durfte und mein bester Freund mit seiner Familie in den Westen «rübermachte».

Aufgeschreckt von der Überschrift «Auflösung der Unterlagenbehörde – Was wird jetzt aus meiner Stasiakte?» beim Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» habe ich nun einen Antrag auf Einsicht in meine Stasi-Unterlagen gestellt. Den Artikel habe ich erst danach gelesen und festgestellt, dass die Eile unbegründet war: Zwar wurde die Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen (BStU) aufgelöst, aber die Unterlagen sind nun einer anderen Behörde unterstellt worden und bleiben zugänglich.

Bin ich wirklich bereit zu verzeihen?

Trotzdem: Ich will nun doch wissen, was die Stasi über mich wusste. Vielleicht kommt auch gar nichts bei meinem Antrag raus, wie bei etwa der Hälfte der rund 3,3 Millionen Bürgeranträge, die seit 1991 gestellt wurden. Aber dann hätte ich wenigstens Gewissheit.

Nach mehr als 30 Jahren bin ich auf jeden Fall wieder neugierig genug. Und: Meine DDR-Vergangenheit ist weit genug weg, um verzeihen zu können, falls es etwas zu verzeihen gibt. Das hoffe ich zumindest.

Ob ich mittlerweile wirklich so abgeklärt bin, wie ich es mir einrede? Dessen bin ich mir nach zwei Briefen vom Stasi-Unterlagen-Archiv und zwei Telefonaten gar nicht mehr so sicher.

Die Serie «Ich und die Stasi» wird in lockerer Folge und bei allfälligen Entwicklungen zum Antrag auf Akteneinsicht fortgesetzt.