Wahlen Setzen die Schotten heute ein Zeichen für ihre Unabhängigkeit?

Von Philipp Dahm

6.5.2021

«Our right to decide»: Vertreter schottischer Unabhängigkeit zeigen am 1. Mai in Glasgow Flagge.
«Our right to decide»: Vertreter schottischer Unabhängigkeit zeigen am 1. Mai in Glasgow Flagge.
KEYSTONE

Grossbritannien wollte sich durch das Brexit-Referendum wieder aufs Nationale besinnen. Doch der EU-Austritt könnte der Anfang vom Ende des Vereinigten Königreichs sein – je nachdem, wie Schottland heute wählt.

Von Philipp Dahm

6.5.2021

«Es ist egal, wer Kontinentaleuropa kontrolliert», heisst es in dem Video von Youtuber Tik, der sich in Militärgeschichte spezialisiert hat: «Es kann Deutschland sein, Frankreich, die Habsburger, die Sowjets ... Es ist egal. Was wichtig ist, ist, dass sowas Grossbritannien in eine schreckliche Position bringt. Warum? Weil ein geeintes Europas Grossbritanniens Souveränität bedroht.»

Die napoleonischen Kriege oder der Kampf gegen Nazideutschland? Nichts Persönliches, meint Tik – aber zu gross lässt London nun mal keine Macht auf dem Kontinent werden. Wer diese Ansicht hat, kann sich auch nicht über den Brexit wundern: Das Vereinigte Königreich hat sein gespaltenes Verhältnis zu Brüssel nie wirklich überwunden. Kein Wunder, dass die Insel für den Austritt gestimmt hat.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jenes Beharren auf Souveränität und Eigenständigkeit nun der Auslöser einer Kettenreaktion sein könnte, an deren Ende sich Grossbritannien womöglich selbst den Todessstoss verpasst. Denn die heutige Wahl in Schottland hat das Zeug dazu, dass Vereinigte Königreich zu sprengen.

Bei dem Urnengang geht es nicht nur um die Wahl einer neuen Regierung: Vom Abschneiden der Scottish National Party (SNP) hängt auch die Frage ab, ob es erneut ein Referendum über die Loslösung von London geben könnte. Zuletzt durften die Bürger 2014 darüber abstimmen: 55 Prozent entschieden sich für den Verbleib im Staatenbund, 45 Prozent wollten einen souveränes Schottland.

Auch die Anhänger der Union mit England und Co. waren am 1. Mai in Glasgow präsent.
Auch die Anhänger der Union mit England und Co. waren am 1. Mai in Glasgow präsent.
KEYSTONE

Dass das Ergebnis nun bei einer Wiederholung ähnlich ausfallen könnte, muss bezweifelt werden. Und schuld daran ist der Brexit: In Schottland haben 62 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt, doch das Votum ging im Austrittstaumel unter. Das Ergebnis hat viele Bewohner im Norden der Insel vor den Kopf gestossen.

Entfremdung durch Brexit

So wie Peter Laybourn aus Loch Fyne, der 2014 noch für einen Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt hatte. Nun hat er seine Meinung geändert. Der Grund? «Natürlich der Brexit», sagt der Professor im Ruhestand in einem Video der Financial Times. «Ich war kein Fan der SNP, aber jetzt bin ich es.»

Auch die Pandemie könnte den Befürwortern einer Eigenständigkeit in die Hände spielen: In Edinburgh oder Glasgow ist das Coronavirus besser eingedämmt worden als in London oder Liverpool. Andererseits bietet der Verbund mit England, Wales und Nordirland auch Sicherheit in ungewissen Zeiten: Wie weit das Unabhängigkeitsbestreben nun geht, wird der heutige Wahltag zeigen. 

Dabei ist der Urnengang aber nur eine Parlamentswahl – die Zugehörigkeit zur Grossbritannien ist auf dem Wahlzettel kein Thema. Doch wenn die SNP ihren Vorsprung weiter ausbaut, die Motor der Loslösungsbetrebungen ist, wird die Forderung nach einem erneuten Referendum in Schottland zwangsläufig lauter.

London muss erneutes Referendum erlauben

2016 ist die SNP auf einen Stimmenanteil von 46,5 Prozent gekommen – vor Labour mit 22,6 und den Konservativen mit 22 Prozent: Der SNP haben bloss zwei Sitze für eine absolute Mehrheit gefehlt. Der Partei werden beste Chancen eingeräumt, diesmal die nötigen 65 Sitze zu erreichen. Das Problem für die Nationalisten: Für die Durchführung eines weiteren Referendums muss London erst grünes Licht geben.

Mit einer absoluten Mehrheit, so die Hoffnung, hätte die SNP ein klares Mandat für die Volksabstimmung und könnte mehr Druck auf London ausüben. Die SNP-Regierungschefin Nicola Sturgeon wollte zuletzt nicht mehr ausschliessen, dass die Schotten möglicherweise bis 2024 warten müssen, sollte die Pandemie das Land noch weiter beschäftigen.

Sie will die absolute Mehrheit: SNP-Regierungschefin Nicola Sturgeon am Montag in Airdrie.
Sie will die absolute Mehrheit: SNP-Regierungschefin Nicola Sturgeon am Montag in Airdrie.
KEYSTONE

Und wenn sich London einfach querstellt? Sollte der britische Premier nach der Wahl trotz einer absoluten Mehrheit für die SNP bei seinem Nein zum Referendum bleiben, spiele der Boris Johnson den Separatisten womöglich in die Hände, glaubt Peter Lynch. «Die SNP könnte feststellen, dass dann die Zustimmung zur Unabhängigkeit wächst», so der Politikwissenschaftler der Universität Stirling Lynch zur Deutschen Presse-Agentur.

Grossbritanniens Schicksal in Schottlands Händen

Eine starre Haltung in London könne eine Trotzreaktion bei den Schotten hervorrufen. Noch seien beide Lager ungefähr gleich auf, daher sei es womöglich gar nicht im Sinne der Separatisten, schon bald grünes Licht aus Westminster zu bekommen – sondern erst, wenn ein Sieg so gut wie sicher scheine.

Die Teilnehmer einer «Leave EU Referendum Party» freuen sich am 23. Juni 2016 in London über das Ergebnis des Brexit-Referendums – doch vielleicht haben sie sich zu früh gefreut.
Die Teilnehmer einer «Leave EU Referendum Party» freuen sich am 23. Juni 2016 in London über das Ergebnis des Brexit-Referendums – doch vielleicht haben sie sich zu früh gefreut.
KEYSTONE

Während sich die Konservativen klar gegen eine Unabhängigkeit Schottlands aussprechen, sind auch die Grünen, die die Regierung von Sturgeon dulden, für die Eigenständigkeit. Wie ernst es den Abspaltern ist zeigt die Gründung der Splitterpartei Alba. Ihr Programm: Druck auf die SNP-Chefin ausüben, damit noch in der nächsten Legislaturperiode ein Referendum durchgeführt wird.

«Es wäre ein gravierender Fehler zu glauben, dass nur schottische Interessen auf dem Spiel stehen», kommentiert «The Times» am Tag vor der Wahl. Fakt ist: Heute steht nicht nur die Zukunft von Schottland auf dem Spiel, sondern auch die von Grossbritannien. Ein Kantersieg der SNP könnte das Ende des Vereinigten Königreichs bedeuten: Dann hätten die Briten ausgerechnet dann das Schicksal ihrer Nation verspielt, als sie durch den Brexit Londons zentrale Macht stärken wollten. Das nennt man paradox.