Der erste Pub-Besuch Nach dem zweiten Bier wurden mir die anderen Gäste zu viel

Von Hanspeter «Düsi» Künzler

19.4.2021

Gästeansturm im Biergarten eines Londoner Pubs am 12. April 2021. 
Gästeansturm im Biergarten eines Londoner Pubs am 12. April 2021. 
Bild: Keystone

Was in der Schweiz ab heute möglich ist, geht in Grossbritannien schon seit einer Woche: Die Restaurants und Pubs dürfen ihre Biergärten und Terrassen wieder bedienen. Die ersten Reaktionen bewegen sich zwischen Hysterie und Spät-Teenager-Trotz.

Von Hanspeter «Düsi» Künzler

19.4.2021

Ich konnte wirklich nichts dafür, dass mich der Hundespaziergang partout am Kilburn-Arms-Pub vorbeiführen musste. Ebenso konnte ich nichts dafür, dass just in dem Moment, wo ich dort ankam, einer von den fünf Tischen draussen an der Strasse frei wurde. Der arme Wirt!, so ging es mir durch den Kopf. Wir schreiben Montag, den 12. April 2021. Zum ersten Mal seit fast einem halben Jahr darf er richtig Bier zapfen, und jetzt das – ein leerer Tisch! Diese Tragödie konnte ich nicht zulassen. Alsbald nippte ich am ersten Pint seit langer, langer Zeit, und der Wirt grinste froh in seine Kasse.

Zum Autor: Hanspeter «Düsi» Künzler
zvG

Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».

Der Kälte zum Trotz – oder vielleicht gerade deswegen – war die Stimmung surreal. Nach all dieser Zeit hatte man den lockeren gesellschaftlichen Umgang nicht mehr intus. Alle redeten lauter als üblich, alle wirkten etwas allzu aufgedreht. So unterhielten sich drei in jeder Hinsicht schwere Jungs ungewöhnlich laut darüber, in welchem Gefängnis welcher Kumpel gerade untergebracht sei. Prompt versuchte der junge Mann am Nebentisch, dessen Sprachgebrauch ihn als Absolvent einer Privatschulbildung outete, seiner neuen Flamme zu imponieren, indem er sich treuherzig in deren Gespräch einmischte.

Amüsant zu beobachten – oder eben gerade nicht – war die Tatsache, dass allerhand ältere Semester ihre Teenager-Trotzphase wiederentdeckt hatten: Resolut schritten sie ohne die verlangte Maske Richtung Toilette und konterten vorwurfsvolle Blicke mit feindseliger Leckt-mich-Miene. Nach zwei Pints hatte ich genug von der unangenehmen Überdrehtheit, kehrte schlotternd nach Hause zurück und gönnte mir noch das stille Glas Rotwein, das mir über den Lockdown so richtig lieb geworden ist. Und dabei ist es seither geblieben.

Die Hälfte der Bevölkerung ist geimpft

Ungefähr die Hälfte der britischen Bevölkerung, nämlich knapp 33 Millionen von 66,69 Millionen, ist inzwischen mindestens einmal geimpft worden. Nachdem Premierminister Johnson lange Zeit heftiger Kritik von allen Seiten über seinen planlos wirkenden Umgang mit Corona ausgesetzt gewesen war, ist die Impfkampagne so ziemlich seine erste Aktion, die allgemein als Erfolg gewertet wird.

Dabei müssen sich die zuständigen Instanzen nicht nur mit den sattsam bekannten Impfgegnern beschäftigen, sondern mit den Fehlinformationen, die vor allem in karibisch, afrikanisch und indisch/pakistanisch geprägten Gemeinschaften verbreitet sind: der Glaube zum Beispiel, dass die Impfung die weibliche Fruchtbarkeit beeinträchtige. Oder auch die Überzeugung, eine Ansteckung sei gottgewollt, es stehe dem Menschen nicht zu, dem Herrn ins Handwerk zu pfuschen.

Viele Film-, TV- und Comedy-Stars versuchen nun im Rahmen von gut aufgezogenen Medienkampagnen solche Ängste zu zerstreuen. Aber im grossen Ganzen hat die Impfkampagne eingeschlagen, die Stimmung ist zuversichtlicher geworden. Derweil noch vor einem Monat eine Anti-Lockdown-Demo in London mehrere Tausend Supporter mobilisiert hatte, scheinen sich auch diese Gemüter inzwischen etwas beruhigt zu haben.

Lokale seit Wochen ausgebucht

Das soeben verstrichene Weekend war das erste unter gelockerten Bedingungen: im Freien dürfen Pubs und Restaurants mit Tischservice geöffnet sein; maximal sechs Menschen aus verschiedenen Haushalten dürfen sich treffen, mehr, wenn die Teilnehmer aus höchstens zwei Haushalten stammen; die Regeln des Social Distancing bleiben.

Prächtiges Wetter lockte die Menschen auf die Strasse und in die Pärke. Im Vergnügungsviertel Soho wurden Strassen abgesperrt, damit die Wirte mehr Tische aufstellen konnten. Die Behörden boten fünfzig zusätzliche Ordnungshüter auf, um dafür zu sorgen, dass die Vorschriften nicht allzu grob verletzt wurden. Wolfpack, die coolste Bar/Brauerei in meinem Quartier (Motto: «Blood, sweat and beers»), richtete auf dem Pausenplatz der benachbarten Schule einen regelrechten Festbetrieb ein.

Die beliebtesten Lokale waren seit Wochen ausgebucht. Partys und Raves sind weiterhin nicht gestattet. Aber im Gegensatz zu den düsteren Tagen des tiefen Lockdowns im Januar und Februar vermeldeten die Medien keine illegalen Massenbesäufnisse in öffentlichen Parks. Immerhin eine Branche hat sich schnell an die neuen halbwegs alten Verhältnisse gewöhnt. Am Samstag besuchten wir Freunde in Chelsea. Die Hinfahrt im Uber kostete 11, die Rückfahrt 36 Pfund. «Die Nachfrage halt, die kann sich schnell ändern», erklärte der Fahrer, der nichts dafür konnte – die Uber-Preise werden zentral diktiert.

Gespannt und ein bisschen bang

Noch sind wir, was die Pubs und Restaurants anbetrifft, meilenweit von den alten Gewohnheiten entfernt. Nur 40 Prozent verfügen über genug Aussenräume, um die Bedingungen, die mit einer Öffnung verbunden sind, gewinnbringend erfüllen zu können. Der Rest bleibt bis mindestens am 17. Mai geschlossen.

Für Begeisterung sorgte auch eine zwischenzeitliche Öffnung der Pubs im vergangenen Sommer. Allerdings war die Freude nur von relativ kurzer Dauer – dann gingen die Fallzahlen wieder nach oben. (Archiv)
Für Begeisterung sorgte auch eine zwischenzeitliche Öffnung der Pubs im vergangenen Sommer. Allerdings war die Freude nur von relativ kurzer Dauer – dann gingen die Fallzahlen wieder nach oben. (Archiv)
Bild: Keystone

Die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen der Schliessungen – sie begannen Mitte März 2020, wurden im Juni 2020 leicht gelüftet, nur um im November in alter Härte zurückzukehren – sind noch nicht abzusehen. Der Pub, die Bar oder auch das Restaurant sind die wichtigsten Berührungspunkte im britischen Alltag. Gegenseitige Besuche daheim beschränken sich auf engste Familienfreunde und gelegentliche Geburtstags- und Dinner-Partys.

Ich bin gespannt und ein bisschen bang, welche Spuren fünf Monate Isolation bei Dulux, Shamus, Billy, Sandra, Maggie, John, Martin und Steve in meinem Stamm-Pub hinterlassen haben. Noch mindestens einen Monat werde ich mich gedulden müssen: McGlynn’s geht erst im Mai wieder auf. Bis dahin sind TV-Inspektor Barnaby und die zahllosen Leichen von Midsomer wohl oder übel meine besten Freunde.