Saudis töten Kinder «Schlimmstes Jahr seit Jahrzehnten» – Riad pfeift auf Menschenrechte

Von Philipp Dahm

22.1.2020

Murtaja Qureiris wurde als Zehnjähriger verhaftet. Heute ist er 18 – und ihm droht die Todesstrafe.
Murtaja Qureiris wurde als Zehnjähriger verhaftet. Heute ist er 18 – und ihm droht die Todesstrafe.
Screenshot: YouTube

Aktivisten haben einen Report über die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien vorgelegt. Der grösste Aufreger des ohnehin düsteren Lagebildes: die Exekution von Kindern und Jugendlichen.

Dass der Menschenrechtsbericht 2019 der Berliner European Saudi Organisation for Human Rights (ESOHR) für Saudi-Arabien nicht positiv ausfällt, war anzunehmen gewesen. Doch dass der Report mit dem Titel «Das Krebsgeschwür der Tyrannei» ein derart düsteres Lagebild zeichnet, gibt zu denken.

Das vergangene Jahr «war das schlimmste Jahr seit Jahrzehnten in der saudischen Geschichte», schreiben die Aktivisten, sie betonen aber gleichzeitig: «Das soll die Gräueltaten der vergangenen Jahre nicht herunterspielen.» Sprich: Das Regime in Riad habe das tiefe Niveau betreffend Gerechtigkeit noch einmal unterschritten – «ein Abwärtstrend, bei dem es kein Zeichen für ein Halten gibt».

Keine Gnade für Kinder und Jugendliche

Insbesondere seit 2015 sei die Zivilgesellschaft stark dezimiert und Gerichte, aber auch die Gesetzgebung noch enger ans Königshaus gebunden worden: «Es gibt so gut wie keine unabhängigen Zivilgesellschaften oder auch nur Einzelpersonen, die in dem Land arbeiten.»

«Freunde mit Fehlern»: BBC-Doku über die Macht der Saudis

Die Machthabenden hätten eine «erhöhte Sensibilität für Kritik, was das beispiellose Zielen auf Aktivisten im Ausland erklärt». Diese Praxis habe es unter dem alten König nicht gegeben, so ESOHR. Dieses Gebaren sei nur möglich, weil Riad «Rückendeckung von den politischen Verbündeten in den USA und Europa, die ökonomisch profitierten, erhalte – das Regime werde so gleichzeitig «in seiner Boshaftigkeit bestärkt».

Al-Hawaj etwa war erst 18, als er im Januar 2014 verhaftet wurde. Die Anklagepunkte lauteten: Der Jugendliche soll in eine Schiesserei mit Polizisten verwickelt gewesen sein, Molotowcocktails geworfen, an einigen Märschen und Demonstrationen teilgenommen, Reifen angezündet, Anti-Regime-Plakate vorbereitet und Sympathien für die Opposition in Bahrain gehabt haben. Saudi-Arabien ist so etwas wie die Schutzmacht des Nachbarstaates, in dem eine sunnitische Minderheit eine schiitische Mehrheit regiert.

14-Jähriger zum Tode verurteilt

Ausserdem soll al-Hawaj via Whatsapp und Zilo Checkpoints der Staatsmacht lokalisiert haben und in sozialen Netzwerken aktiv gewesen sein.

Al-Hawaj ist gemäss ESOHR fünf Monate nach seiner Verhaftung in Einzelhaft verlegt worden, er wurde dort gefoltert und erst nach zwei Jahren einem Richter vorgeführt – das Geständnis soll er unter Folter unterschrieben haben.

Insgesamt seien seit Mohammed bin Salmans Amtsantritt am 21. Juni 2017 zehn Kinder und Jugendliche umgebracht worden, berichtet ESOHR – und in diesem Jahr droht 13 weiteren die Todesstrafe. Die meisten von ihnen sind politische Gefangene, Abdullah al-Huwaiti wiederum ist wegen Mordes verurteilt worden.

14-Jähriger, der erst gefoltert und dann getötet wird: Abdullah al-Huwaiti
14-Jähriger, der erst gefoltert und dann getötet wird: Abdullah al-Huwaiti
Bild: ESOHR

Der 14-Jährige wurde am 8. Mai 2017 verhaftet, weil er an einem Raubüberfall mit Todesfolge auf einen Juwelier  zwei Tage zuvor beteiligt gewesen sein soll. Obwohl ihn Überwachungskameras zur Tatzeit in einer anderen Stadt gefilmt haben sollen, wurde dem Knaben ein Geständnis abgepresst.

Drei Jahre und zehn Monate in Einzelhaft

Im Gefängnis hat er bis zur Bewusstlosigkeit stehen müsssen und wurde dabei fortwährend beschimpft. Dasselbe erlitt er bei laufender Klimaanlage. Polizisten schlugen ihn mit Elektrokabeln auf die Fusssohlen und überhaupt auf den Körper, bis er ohnmächtig wurde.

Als sie die Fusssohlen seines Bruders bearbeiteten, musste er dessen Beine halten, während er selbst geschlagen wurde. Und man erzählte Abdullah, seine Mutter und seine Schwestern würden ebenfalls festgehalten, schliesslich gestand er – und wurde getötet.

Mujtaba Nader al-Sweiket wurde im April als eine von 37 Persoinen exekutiert.
Mujtaba Nader al-Sweiket wurde im April als eine von 37 Persoinen exekutiert.
Bild: ESOHR

Andere, die das Königshaus lieber für immer zum Schweigen bringen würde, sind Menschenrechts- und Frauenaktivisten. So wie die Anwälte Mohammed al-Otaibi und Abdullah al-Atawi. Ersterer wurde 2019 zu 14 Jahren Haft verurteilt, aber auch gleich wieder mit neuen Anklagen eingedeckt – darunter die Punkte «Reisen nach Katar», «Kommunikation mit fremden Mächten» und «Störung öffentlicher Angelegenheiten.» Atawi wird die Gründung einer Menschenrechtsorganisation zur Last gelegt.

Im Alter von 18 Jahren verhaftet und nach zwei Jahren exekutiert: Abdulkareem Al Hawaj.
Im Alter von 18 Jahren verhaftet und nach zwei Jahren exekutiert: Abdulkareem Al Hawaj.
Bild: ESOHR

Bekannte inhaftierte Feministinnen sind Loujain al-Hathloul, Nouf Abdulaziz, Nassima al-Sadah und Samar Badawi. Einen fairen Prozess dürfen die Häftlinge nicht erwarten. Die Regierung dehnt die Zeit bis zum Beginn eines Prozesses oder jene für Einzelhaft beliebig aus: Sheikh Samir al-Hilal etwa wurde 2015 verhaftet und sass bis Ende 2019 in Einzelhaft – 46 Monate.

Rekord-Exekutionen und Todesschwadrone

Und obwohl Riad 2019 noch einen Sitz im UN-Menschenrechtsrat innehatte, gab es Negativrekord um Negativrekord: Nachdem etwa 2015 gegen 157 Bürger die Todesstrafe ausgesprochen wurde, wurden 2019 185 Personen hingerichtet. 47 weiteren Häftlingen droht 2020 ein ähnliches Schicksal.

Die grössten Waffenabnehmer und -verkäufer 2018

Hinzu kommen die Opfer jener Todesschwadronen, die Kronprinz Mohammed bin Salman direkt unterstellt sind. Mindestens 22 Bürger wurden von der Staatssicherheit getötet, die von staatlichen Medien im Nachhinein als Terroristen gebrandmarkt werden.

Am 11. Mai wurde beispielsweise das Städtchen Sanabis sieben Stunden belagert, Panzerfahrzeuge kamen zum Einsatz, acht Personen wurden getötet.

Dass viele westliche Staaten dem Königshaus nach wie vor die Treue hielten, habe Folgen im Inneren des arabischen Landes, schliesst ESOHR seinen Report ab. Denn das «hat den Glauben an ein objektives System internationaler Beziehungen zerstört, das eine ehrliche Rolle dabei spielen kann, Saudi-Arabien dazu zu bringen, die Menschenrechte zu respektieren».

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