Der Kreml muss haushaltenPutin bleiben nach den Angriffen nur noch wenige Raketen
Von Andreas Fischer
11.10.2022
Russland greift Kiew an – Vergeltung für Krim-Brücke
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einem Video, das ihn am Montag vor dem Präsidenten-Palast in Kiew zeigte, Russland habe seine Angriffe so abgestimmt, dass sie den grösstmöglichen Schaden unter Zivilisten anrichten würden.
10.10.2022
Wladimir Putin hat an zwei Tagen in Folge gross angelegte Raketenangriffe auf die Ukraine befohlen. Experten vermuten, dass seine Arsenale mittlerweile fast leer sind. Das hat Folgen für den Krieg.
Von Andreas Fischer
11.10.2022, 15:12
Von Andreas Fischer
Auf dem Boden sieht Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Wochen kein Land mehr, aus der Luft aber kann die Wladimir Putins Armee weiterhin jeden Punkt im Nachbarland treffen. Das rufen die derzeitigen Raketenangriffe brutal in Erinnerung. Am Montag hatte Russland Kiew und weitere Städte in der Ukraine angegriffen, auch am Dienstag wurden wieder Dutzende Raketen abgefeuert.
Dass sich solche Angriffswellen häufen werden, davon gehen Experten allerdings nicht aus. Der Grund: Russland hat kaum noch Vorräte der dafür notwendigen Präzisionswaffen, wie Sicherheitsforscher Niklas Masuhr im Interview mit blue News bestätigt hat. Putin müsse für solche Schläge auf Waffensysteme zurückgreifen, die der Armee nur begrenzt zur Verfügung stünden: «Konkret sind das ballistische Iskander-Raketen und Kalibr-Marschflugkörper.»
Zum Einsatz kamen nach Angaben des Kiewer Verteidigungsministeriums auch unbemannte Kamikaze-Drohnen aus iranischer Produktion, luftgestützte Lenkwaffen vom Typ Ch-101 und Ch-55, die aus der Region des Kaspischen Meers abgefeuert worden seien, sowie veraltete S-300-Luftabwehrraketen.
Bei den Angriffen vom Montag hat Russland laut Angaben des ukrainischen Generalstabs 84 Raketen und Marschflugkörper abgefeuert, von denen die Ukraine 43 abgeschossen habe, bevor sie ihr Ziel erreichen konnten.
Russland muss haushalten
Für die Analysten des Thinktanks «Institute For The Study of War» (ISW) war Russlands Einsatz der Präzisionswaffen pure Verschwendung. Der Vorrat sei begrenzt, und der Kreml-Chef beraube sich mit den wenig effektiven Vergeltungsschlägen der Möglichkeit, die laufenden ukrainischen Gegenoffensiven in den Gebieten Cherson und Luhansk zu stören.
Laut Experten sind etwa die Bestände der strategischen Lenkwaffen vom Typ Kalibr arg strapaziert. Die Marschflugkörper gehören zu den präziseren Waffen der russischen Armee. Sie können mit einer Reichweite von bis zu 1500 Kilometern jedes Ziel in der Ukraine erreichen. Bestückt mit bis zu 500 Kilogramm schweren Gefechtsköpfen, werden sie unter anderem von Schiffen im Schwarzen Meer abgefeuert und sind mit einem GPS-System ausgestattet, das Ziele mit einer Genauigkeit von wenigen Metern trifft.
Wie viele dieser Marschflugkörper die russischen Truppen noch im Arsenal haben, ist unklar. Sicher ist laut Analysten vom Center for European Policy Analysis (CEPA) jedoch, dass Russland damit haushalten muss. Zum einen, weil sie mit einem Stückpreis von 6,5 Millionen Dollar teuer sind, zum anderen, weil die Produktionskapazität begrenzt ist. Russland könne lediglich 120 Stück pro Jahr herstellen. Die «Neue Zürcher Zeitung» mutmasst, dass Russland im bisherigen Kriegsverlauf bereits die Produktion mehrerer Jahre verbraucht hat.
Munitionsfabriken fehlt Personal
Der ukrainische Geheimdienst geht zwar davon aus, dass Russland bis zu 50 Prozent mehr Kalibr-Marschflugkörper produzieren kann, als vom CEPA angenommen. Aber die bis zu 180 Stück pro Jahr seien nur ein theoretisches Produktionsmaximum. Zwar verfüge Russland dank des Geldflusses aus dem Öl- und Gasverkauf eigentlich über genügend finanzielle Reserven, um die Produktion anzukurbeln.
In der Praxis aber fehlen schlichtweg die Arbeiter, um die Stückzahlen deutlich zu erhöhen: Ingenieure, Mechaniker und andere technische Mitarbeiter dürften aufgrund der Teilmobilmachung künftig noch schwieriger zu finden sein.
Schülerin filmt sich, als eine Rakete einschlägt
Am Montagvormittag attackierte Russland die Ukraine mit mehreren Bomben. Viele Menschen waren auf dem Weg zur Schule oder Arbeit, als die Raketen einschlugen.
10.10.2022
Ausserdem müsse Russland bei den Raketen-Beständen haushalten, «weil etwa 70 Prozent der Komponenten nicht in Russland hergestellt werden», wie Geheimdienstmitarbeiter Vadym Skibitskyi von der «Ukrainska Pravda» zitiert wird. Durch die westlichen Sanktionen fehlt es an essenziellen Bauteilen, darunter Mikrochips.
Auch bei anderen Präzisionswaffen herrscht Mangel in Russlands Armee. So könne Russland von den ballistischen Kurzstrecken-Raketen des Typs Iskander-M laut NZZ pro Jahr nur wenige Dutzend produzieren. Kommt hinzu, dass die Reichweite auf 500 Kilometer beschränkt und die Treffgenauigkeit etwas bescheidener ist als bei den Kalibr-Marschflugkörpern.
Putin muss improvisierte Raketen einsetzen
Wie gravierend der Munitionsmangel wirklich ist, wird auch dadurch deutlich, dass Russland mittlerweile dazu übergangenen ist, 35 bis 40 Jahre alte Flugabwehrraketen vom Typ S-300 gegen Bodenziele einzusetzen. Diese Auslaufmodelle würden normalerweise auf dem Schrottplatz landen, werden nun allerdings für den Einsatz gegen die Ukraine modifiziert. Der Bestand der S-300-Raketen in der russischen Armee war mit 7000 Stück Anfang September so hoch, dass er bei derzeitiger Feuerfrequenz noch drei Jahre reichen würde.
Dass Russland improvisierte Raketen für andere Zwecke verwendet, ist für den britischen Sicherheits- und Verteidigungsexperten Professor Michael Clarke ein klares Indiz, dass trotz der zuletzt heftigen Angriffe nur noch wenige Raketen zur Verfügung stehen könnten. Bei Sky News erklärte Clarke: «Die Russen haben offenbar nicht mehr so viele Kalibr-Marschflugkörper. Sie haben gestern zwar einige davon eingesetzt, aber wenn sie mehr hätten, würden sie sicher auch mehr einsetzen.»
Auch die reguläre Munition geht aus
Stattdessen habe man gesehen, wie Anti-Schiffs-Raketen in Gebäude eingeschlagen seien «mit einem halbtonnenschweren Sprengkopf, die für den Einsatz gegen Flugzeugträger gedacht sind. Und wir haben Boden-Luft-Raketen gesehen, die eigentlich als Flugabwehrraketen gedacht waren und gegen Bodenziele eingesetzt wurden.»
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste werden für Moskau nicht nur die Präzisionsraketen knapp, sondern zunehmend auch die reguläre Munition. «Wir wissen, und das wissen auch russische Kommandeure im Krieg, dass ihnen die Ausrüstung und Munition ausgehen», sagte der Direktor des britischen Geheimdienstes GCHQ, Jeremy Fleming, am Dienstag einem vorab veröffentlichten Redemanuskript zufolge, aus dem die BBC zitierte. Das zeige: Der russische Präsident Wladimir Putin mache Fehleinschätzungen und strategische Fehler.