Brasilia: Lage weiterhin angespannt
STORY: Es sind Bilder der Zerstörung, die bei einem Rundgang am Montag in Brasilia der Presse gezeigt wurden. In der brasilianischen Hauptstadt hatten am Sonntag Tausende mutmassliche Bolsonaro-Anhänger das Kongress-Gebäude, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast gestürmt und starke Verwüstungen angerichtet. Medienberichten zufolge hatten die Sicherheitskräfte die Lage erst nach mehreren Stunden wieder unter Kontrolle. Die Situation ist weiterhin angespannt und demonstrativ versammelte sich am Montag ein Polizeiaufgebot vor einem Lager von Anhängern des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Die schwer bewaffneten Polizisten, viele von ihnen zu Pferd, standen vor dem Protestcamp der Bolsonaro-Anhänger vor dem Armeehauptquartier. Bolsonaro hatte die Wahl gegen den linksgerichteten Lula im Oktober verloren. Zum Jahreswechsel endete seine Amtszeit. Seine Niederlage hat er bis heute nicht eingestanden.
09.01.2023
Die Familie des brasilianisch-schweizerischen Journalisten Alexander Thoele lebt in Brasilia, wo Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro Regierungsgebäude gestürmt haben. Das sagt er zu den Ereignissen.
Ihre Mutter und Ihre Geschwister wohnen in Brasilien: Wie haben Sie die Unruhen erlebt?
Sie leben in der Hauptstadt Brasilia. Meine Mutter und mein Bruder waren in ihrem Haus und haben nichts mitgekriegt. Meine Schwester arbeitet als Polizistin und war am 1. Januar anlässlich der Amtseinführung von Lula da Silva im Einsatz. Am Montag hatte sie glücklicherweise frei.
Zur Person
Alexander Thoele wurde in Rio de Janeiro geboren und studierte Journalistik und Informatik in Stuttgart und Brasilia. Seit 2002 arbeitet er bei Swissinfo und ist dort Teil der portugiesischsprachigen Redaktion.
Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Sturm auf die Institutionen in Brasilia gehört haben?
Ich kam gerade aus dem Kino, wo ich «Avatar» schaute, und überflog anschliessend die App einer brasilianischen Zeitung, als ich davon erfuhr. Ich stand unter Schock. Erst im November besuchte ich meine Familie, wo ich bereits Eindrücke von der Lage im Land gewinnen konnte.
Welche waren dies?
Die Proteste, die seit der Abwahl von Bolsonaro in Brasilia stattfinden, habe ich miterlebt. In der ganzen Stadt waren in den Nationalfarben Grün und Gelb gekleidete Menschen. Mir wurde schlagartig klar, wie gespalten das Land ist.
Woher kommt diese Spaltung?
Schon vor der Wahl Bolsonaros vor vier Jahren litt das Land unter wirtschaftlicher Schwäche und unter Korruptionsskandalen. Viele gaben Bolsonaro ihre Stimme, weil sie dagegen protestieren wollten. Wie extrem seine Positionen hinsichtlich Umweltschutz oder Rechte der Homosexuellen sind, wurde vielen erst später klar.
Teilt die Politik auch Ihre Familie in Lager?
Manche meiner Verwandten waren gegen Lula, als er zuletzt an der Macht war, und gaben Bolsonaro vor vier Jahren ihre Stimme. Aber spätestens als Bolsonaro bei der Bewältigung der Coronapandemie versagte, wandten sich alle in meinem Umfeld von ihm ab.
Gab es Schlüsselmomente?
Ein Freund von mir, der im Norden des Landes an der Universität unterrichtet, musste für seine kranke Mutter auf dem Schwarzmarkt Sauerstoffflaschen kaufen, weil das Spital keine mehr hatte. Die Pandemie traf Brasilien hart.
Dennoch steht beinahe die Hälfte des Landes hinter ihm und stürmt Regierungsgebäude.
Ja. Wie knapp Lula die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, erstaunte mich. Dass seine Anhänger Regierungsgebäude stürmen, hätte ich nie gedacht.
Sorgen Sie sich um die Demokratie Brasiliens?
Ich habe keine Angst. Wir sind eine starke Demokratie, mit starken Institutionen und einer freien Presse. Zwar wurden die Gebäude zerstört und geplündert, nicht aber die Institutionen. Dass niemand die Ausschreitungen verhindern konnte, lag wohl daran, dass noch viele Bolsonaristen Schlüsselpositionen bekleiden.
Was muss Lula tun, um das Land wieder in den Griff zu bekommen?
Die Frage lautet eher, wie er die Armee wieder hinter sich einen kann. Denn bei vielen Pro-Bolsonaro-Demonstrationen schlugen sich Armeeangehörige auf die Seite der Demonstrierenden. Noch ist die Lage alles andere als stabil.