Lagebild Ukraine Kiews strategische Erfolge und Moskaus Joker in der Hinterhand

Von Philipp Dahm

7.10.2022

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07.10.2022

Die Front in der Ukraine ist gerade um die 1500 Kilometer lang. Kiew macht im Norden und Süden weiter Boden gut. Russland hingegen feiert nur in Donezk einen kleinen Erfolg, hat aber noch einen Joker in der Hinterhand.

Von Philipp Dahm

7.10.2022

Manchmal vergisst man die Entfernungen, wenn man die Karten vom Krieg in der Ukraine betrachtet. Tatsächlich ist die Frontlinie zwischen dem Oblast Mykolajiw im Westen von Cherson und der Grenze zwischen den Regionen Charkiw und Luhansk derzeit rund 1500 Kilometer lang.

Die ukrainischen Streitkräfte nutzen weiter das Momentum, das seit der Gegenoffensive in Charkiw auf ihrer Seite ist. Dabei profitiert Kiews Armee von der Tatsache, dass die Ukraine im Gegensatz zu Russland direkt bei Kriegsbeginn mobilisiert hat. So stehen genug Soldat*innen zur Verfügung, um in Donezk die Linie zu halten und in Charkiw wie auch Cherson weiter vorzurücken.

Der aktuelle Frontverlauf in der Ukraine.
Der aktuelle Frontverlauf in der Ukraine.
Karte: Institute for the Strudy of War

Weil stetig neu ausgehobene Truppen nachrücken, die in Grossbritannien, auf US-Basen in Deutschland und Schweden ausgebildet werden, steht im Rückraum aktuell sogar noch eine Reserve bereit. Es wird bereits spekuliert, dass diese südlich von Saporischschja noch überraschend angreift und versucht, bis zum Schwarzen Meer vorzustossen, bevor der Winter einsetzt. Aus dem Gebiet werden notabene Partisanen-Kämpfe gemeldet.

Russland als grösster Waffenlieferant der Ukraine

Nachdem nun auch Russland teilweise mobilisiert, rücken zwar theoretisch auch auf der Gegenseite Soldaten nach. Doch je schneller diese kommen, desto schlechter sind sie auf den Krieg vorbereitet. Auf die Moral schlägt weiterhin fehlende Bezahlung, mieses Essen und schlechte Ausrüstung.

Schlecht für die Moral russischer Soldaten: Ukrainische Artillerie nimmt nahe von Kupjansk am 6. Oktober den Feind mit 152-Millimeter-Geschützen vom Typ 2A65 Msta-B unter Beschuss.
Schlecht für die Moral russischer Soldaten: Ukrainische Artillerie nimmt nahe von Kupjansk am 6. Oktober den Feind mit 152-Millimeter-Geschützen vom Typ 2A65 Msta-B unter Beschuss.
EPA

Gleichzeitig erhöht der Kreml seine Anstrengungen, Söldner anzuwerben: Die Wagner Group wirbt statt mit 3000 bis 5000 Dollar Sold monatlich nun angeblich mit einer Bezahlung von bis zu 10'000 Dollar. Die von Moskau gesteuerte Sicherheitsfirma versucht demnach, möglichst kampferfahrene Männer aus dem kriminellen Milieu in Ländern wie Tschechien oder Ungarn oder in Südamerika zu rekrutieren.

Ganz anders die ukrainische Armee: «Mehrere Mitglieder» der EU würden derzeit «mehrere Anfragen» für militärische Unterstützung bearbeiten, so Präsident Emmanuel Macron. Dazu gehörte auch französische Artillerie vom Typ Caesar. Der grösste Waffenlieferant sei zuletzt jedoch Russland gewesen, spottet Kiew, nachdem in den letzten Vorstössen jede Menge Kriegsgerät und Munition erbeutet worden ist.

Charkiw: Der nächste Erfolg ist zum Greifen nah

Die russische Verteidigungslinie am Fluss Oskil ist Geschichte. Ukrainische Truppen haben sich östlich des Ufers festgesetzt und überschreiten die Grenze zum Oblast Luhansk. Zwei Ziele geniessen bei dem weiteren Vorstoss Vorrang: zum einen Trojizke, der in untenstehender Karte markiert ist.

Die Siedlung, rund zehn Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, liegt zum einen an der gut sichtbaren Strasse P-66, die die Verbindungsader nach Swatowe und weiter nach Sjewjerodonezk ist. Ausserdem führt hier eine aus Russland kommende Eisenbahnlinie durch, die für die Versorgung der Region extrem wichtig ist.

Die P-66 hingegen ist bereits in Reichweite ukrainischer Artillerie. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass das russische Militär das zweite wichtige Ziel angeblich räumt: den Verkehrsknotenpunkt Swatowe. Das Problem: Die Stadt ist zwar durch einen Fluss geschützt, doch westlich davon liegt eine Hochebene, die die Verteidigung von Swatowe erschwert.

Swatowe mit der Anhöhe im Osten der Stadt.
Swatowe mit der Anhöhe im Osten der Stadt.
Google Earth

Cherson: Rubikon überschritten

Nach Charkiw kann die ukrainische Armee auch aus Cherson mittlerweile grössere Erfolge vermelden – wie etwa die Einnahme von Dawydiw Brid. Die Eroberung des Dorfes ist deshalb erwähnenswert, weil es südöstlich des Inhulez liegt. Der Fluss schliesst zusammen mit dem Dnepr eine «Insel» mit einigen Tausend russischen Soldaten ein.

Rot markiert: Dawydiw Brid innerhalb der «Insel» zwischen Inhulez und Dnepr.
Rot markiert: Dawydiw Brid innerhalb der «Insel» zwischen Inhulez und Dnepr.
Karte: Google Earth

Vom Norden her macht Kiews Militär Druck auf diese Tasche. Die Befreiung des Dorfes Dudtschany ist ein Erfolg, weil russische Truppen hier eine Brücke zerstört haben, die Richtung Cherson führt, und die Gegenseite dennoch weiter vorrücken konnte.

Ein Vorteil für die Ukraine: Das Wetter ist nicht so schlecht, wie es sein könnte, und der Boden noch nicht so aufgeweicht, sodass nicht nur Vorstösse leichter Einheiten, sondern auch von Panzern noch möglich sind. Russland hingegen kann eigene Einheiten nur noch mit Fähren über den Dnepr versorgen.

Kleiner Erfolg für den Kreml in Donezk und ein «Joker»

Ist Russland eigentlich überall im Hintertreffen? Nein, doch vorzeigbar ist das zuletzt Erreichte kaum. Moskaus Einheiten versuchen nach wie vor, Bachmut anzugreifen, doch die Verteidiger haben sich eingegraben und grosse Geländegewinne sind nicht zu vermelden: Nur das Dorf Wessela Dolyna ist neu in russischer Hand.

Rot markiert: Artemiwsk alias Bachmut. Im Südosten das Dorf Wessela Dolyna.
Rot markiert: Artemiwsk alias Bachmut. Im Südosten das Dorf Wessela Dolyna.
Karte: Google Earth

Und Wladimir Putin hat noch einen Joker – und der heisst Alexander Lukaschenko. Der Hintergrund: Kurz nach der Verkündigung der russischen Teilmobilmachung haben weissrussische Bahn-Mitarbeiter angeblich publik gemacht, dass alle Gleisverbindungen nach Russland inspiziert und geartet werden sollen. Gleichzeitig wird vermeldet, dass 20'000 Rekruten nach Belarus verlegt würden.

Seit Kriegsbeginn bindet die Aussicht, dass Lukaschenko die Ukraine angreift, Truppen im Norden des Landes. Armee, Nationalgarde und Grenzwacht haben deshalb gerade ein Manöver abgehalten. Lukaschenko warnte Kiew zuletzt vor weiteren «Provokationen» – und Russland hat erstmals seit August wieder Raketen von Belarus aus auf Ukraine abgefeuert.