Rentenreform Grossstreik in Frankreich trifft auch Schweizer Reisende

Agenturen

5.12.2019 - 05:00

Auch die Schweiz wird diesen Streik zu spüren bekommen: Zehntausende Menschen wollen in Frankreich am Donnerstag ihre Arbeit niederlegen und gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron protestieren.

Frankreich rüstet sich mit einem riesigen Sicherheitsaufgebot für einen Streik, der das gesamte Land lahmlegen könnte. Allein in der Hauptstadt werden am Donnerstag 6'000 Polizisten im Einsatz sein, kündigte der Pariser Polizeipräsident Didier Lallement an.

Zum «Generalstreik» gegen die Rentenform haben zahlreiche Gewerkschaften aufgerufen. Züge, Metro, Bus – alles soll weitestgehend stillstehen. «Wir müssen die Wirtschaft lahmlegen», sagte Christian Grolier, ein hochrangiger Vertreter der Gewerkschaft Force Ouvriere, der Nachrichtenagentur Reuters.

Aber auch an Schulen, im öffentlichen Dienst, in Spitälern oder der Justiz soll die Arbeit niedergelegt werden. Es werde erwartet, dass voraussichtlich mehr als die Hälfte aller Grund- und Sekundarschullehrer nicht zur Arbeit gehen und die Notaufnahmen von Spitälern landesweit mit dünner Personaldecke auskommen müssen. Die Behörden rechnen bei Demonstrationen in Paris wieder mit heftigen Ausschreitungen.

Der Zugverkehr in ganz Frankreich ist mindestens am Donnerstag massiv gestört. Die französische Bahngesellschaft SNCF hat angekündigt, dass nur einer von zehn Schnellzügen TGV fahren werde. Bei Regionalzügen sieht es ähnlich aus. Eurostar und Thalys zufolge sind mindestens die Hälfte ihrer Verbindungen zwischen Paris und London und Brüssel gestrichen.



Flüge und Züge in die Schweiz gestrichen

Auch die Schweiz bekommt den Streik zu spüren. Am Flughafen Genf sollen am Donnerstag insgesamt 25 ankommende und 26 abfliegende Flüge aufgrund des Streiks gestrichen werden. Die Fluggesellschaft Swiss annullierte zudem mindestens zwei Flüge zwischen Paris und Zürich.

Auch der Zugverkehr zwischen der Schweiz und Frankreich dürfte praktisch zum Erliegen kommen. Bis auf einen einzigen Zug ab Basel fallen alle TGV-Verbindungen zwischen der Schweiz und Frankreich aus. Die Verbindungen im Regionalverkehr sind ebenfalls stark betroffen.

Mindestens 20 Prozent der Flugzeuge bleiben am Boden. Besonders schwerwiegend wird die Situation wohl in Paris. Auf der Mehrzahl der Metrolinien ist der Verkehr eingestellt. Auch Busse und Trams fahren nur extrem eingeschränkt.

Auch Mitarbeiter des Energiekonzerns EDF, die Müllabfuhr, Anwältinnen, Polizisten, Bodenpersonal an Flughäfen und Studenten wollen auf die Strasse gehen. Auch wenn der Streik branchenübergreifend ist, wird nicht die gesamte Arbeiterschaft des Landes die Arbeit niederlegen.

Landesweit fast 250 Demonstrationen

In ganz Frankreich sind nach Angaben von Innenminister Christophe Castaner 245 Demonstrationen angemeldet. In Paris soll es einen grossen Demonstrationszug geben. Aus Sicherheitsbedenken hat die Polizei Ladenbesitzer an der Demoroute aufgefordert, ihre Geschäfte und Restaurants nicht zu öffnen. «Wir wissen, dass der radikale schwarze Block und «Gelbwesten» beschlossen haben, an den Demonstrationen in Paris teilzunehmen», sagte Castaner. Die Behörden rechnen mit Krawallen.

Doch was ist der Grund für den riesigen Streik: Die geplante Rentenreform treibt die Menschen auf die Strasse. Sie gilt als wichtigste Sozialreform von Staatschef Emmanuel Macron. Das neue System soll die Zersplitterung in Einzelsysteme für bestimmte Berufsgruppen beenden und somit solidarischer sein. Arbeitnehmer sollen auch dazu gebracht werden, länger zu arbeiten.

Macron will Frankreichs veraltetes Rentensystem vereinfachen, das mehr als 40 verschiedene Pensionsformen umfasst. Er sagt, das System sei unfair und zu teuer – er fordert ein einheitliches, punktebasiertes System, wonach jeder Rentner für jeden eingezahlten Euro die gleichen Rechte habe. In Frankreich gibt es neben der allgemeinen Rentenversicherung, in die die Mehrheit der Franzosen einzahlt, zahlreiche Sonder- und Ausnahmeregelungen.

Etliche Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes aber auch anderer Berufsgruppen sind Mitglied in einem der 42 Einzelsysteme, die besondere Privilegien mit sich bringen. Sonderregelungen gelten etwa für Mitarbeiter der Staatsbahn SNCF, der Strom- und Gaswirtschaft, des Militärs, von Krankenhäusern aber auch für Seeleute, Anwälte, Freiberufler oder Angestellte der Pariser Oper.

Forderung: Neuregelungen nur für Berufseinsteiger

Diese Sonderrentensysteme werden vom Staat bezuschusst – nach ihnen richtet sich oft auch, wann jemand in Rente geht. So können Bahnfahrer der Pariser Nahverkehrsgesellschaft RATP schon Anfang 50 in Rente gehen, oft jedoch nicht mit vollen Bezügen. Das normale Renteneintrittsalter liegt in Frankreich bei 62 Jahren. Je nach System fallen die Renten recht üppig aus. Viele sorgen sich, dass sie im Zuge der Reform weniger Rente bekommen werden. Die Gewerkschaften argumentieren, dass das neue einheitliche System den unterschiedlichsten Berufsgruppen nicht gerecht wird.

Denn die Reform soll die Sonderregelungen beseitigen. Künftig soll es ein Punktesystem geben, das sich nach der Dauer der Beitragsjahre richtet, so der Vorschlag. Das neue System soll von 2025 an eingeführt werden. Gewerkschaften fordern aber eine sogenannte Grossvaterklausel. Demnach wären nur Berufseinsteiger von den Neuregelungen betroffen. Die Regierung spricht sich dagegen aus.

Ähnlich wie nach den «Gelbwesten»-Protesten gibt es in den Regionen nun Bürgerdebatten mit Regierungsvertretern. Die endgültigen Entscheidungen zur Reform sollen noch bekannt gegeben werden. Die Regierung strebt eine Parlamentsabstimmung vor der Sommerpause 2020 an.

Streik ohne Enddatum

Die Reform ist ein Mammutprojekt. Nach den «Gelbwesten»-Protesten ist sie die nächste grosse Herausforderung für Präsident Macron und ein durchaus heikles Vorhaben. In Frankreich fürchten nun viele einen Streik wie zuletzt 1995. Damals wurde wochenlang gegen die Renten- und Sozialversicherungsreform des damaligen Premierministers Alain Juppé protestiert. Auch der aktuelle Streik wird wohl nicht am Donnerstagabend vorbei sein, sondern dürfte sich hinziehen. Für das Wochenende werden wieder massive «Gelbwesten»-Proteste in Paris erwartet.

Laurent Berger, Chef der reformorientierten CFDT-Gewerkschaft, sagte, das soziale Umfeld sei explosiver als 1995. «In Bezug auf Spannungen, sozialen Zusammenhalt und Brüche in der Gesellschaft ist es jetzt viel schlimmer», sagte Berger. Die Verkehrsgewerkschaften haben für den am 5. Dezember beginnenden Streik kein Enddatum festgelegt.

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