100 Tage nach dem «Freedom Day» So ernst ist die Corona-Lage in Grossbritannien

Von Christoph Meyer, dpa

26.10.2021 - 19:53

Seit dem «Freedom Day» verzichten viele Britinnen und Briten auf Schutzmassnahmen.
Seit dem «Freedom Day» verzichten viele Britinnen und Briten auf Schutzmassnahmen.
Bild: Matt Dunham/AP/dpa

100 Tage nach dem «Freedom Day» hat Grossbritannien eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Auch die Zahl der Krankenhaus- und Todesfälle steigt wieder. Experten fordern die Rückkehr von Corona-Massnahmen, doch die Regierung stellt auf Durchzug.

Von Christoph Meyer, dpa

26.10.2021 - 19:53

«Vorsichtig, aber unumkehrbar» – so hatte der britische Premierminister Boris Johnson die schrittweise Aufhebung der Corona-Massnahmen in England angekündigt. Am 19. Juli war es soweit. Im grössten britischen Landesteil fielen die letzten Pandemie-Regeln wie Abstand halten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer feierten den «Freedom Day» ausgelassen in den Diskotheken des Landes. Doch 100 Tage später ist vielen nicht mehr zum Feiern zumute.



Grossbritannien hat inzwischen eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei etwa 485, Tendenz steigend. Die als Impfwunder gefeierte Kampagne – die zu Beginn viel schneller anlief als in vielen EU-Ländern – gerät bei den Auffrischungsimpfungen für Ältere und den Jugendlichen ins Stocken.

Zuletzt kletterte die Zahl der registrierten Neuinfektionen auf beinahe 50'000. Die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen liegt bei mehr als 1000, täglich werden Dutzende Corona-Tote gemeldet. Eine neue, womöglich geringfügig ansteckendere Variante des Virus in Grossbritannien, gilt hingegen bislang als wenig besorgniserregend.

Johnson lässt sich feiern, Experten warnen

Beim Parteitag seiner Konservativen in Manchester Anfang Oktober liess sich Boris Johnson noch dafür feiern, dass man «seit Monaten eine der offensten Wirtschaften und Gesellschaften» habe.

Doch Experten und Mediziner warnen inzwischen davor, dass der Abbau des während der Pandemie entstandenen Rückstaus an Krankenhausbehandlungen in Gefahr gebracht werden könnte. «Wir sind am Limit, und es ist Mitte Oktober.

Grossbritanniens Premierminister Boris Johnson spricht bei einer Veranstaltung in London. Foto: Leon Neal/POOL GETTY/AP/dpa
Grossbritanniens Premierminister Boris Johnson spricht bei einer Veranstaltung in London. Foto: Leon Neal/POOL GETTY/AP/dpa
Leon Neal/POOL GETTY/AP/dpa

Es würde unglaublich viel Glück brauchen, damit wir uns in drei Monaten nicht in einer schweren Krise wiederfinden», sagte der Geschäftsführer des Verbands der Trägerorganisationen des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS, Matthew Taylor, dem «Guardian». Der Ärzteverband BMA (British Medical Association) bezichtigte die Regierung, sogar «bewusst fahrlässig» zu handeln.

Taylor fordert wie viele andere, dass die Regierung ihren vor einigen Wochen angekündigten Plan B nun ins Spiel bringt – das würde zum Beispiel eine Wiedereinführung der Maskenpflicht in überfüllten Räumen und die Pflicht zum Vorzeigen von Impfpässen bei Grossveranstaltungen bedeuten.

Dramatischer Anstieg von Neuinfektionen möglich

Auch BMA-Chef Chaand Nagpaul forderte die sofortige Wiedereinführung von Corona-Massnahmen. Die Regierung habe versprochen, Plan B zu ergreifen, wenn der Nationale Gesundheitsdienst NHS in Gefahr sei, überwältigt zu werden. «Als Ärzte, die in erster Reihe stehen, können wir absolut sagen, dass dieser Punkt jetzt erreicht ist», so Nagpaul eine Mitteilung zufolge.

Doch die Regierung will ihr Versprechen von der grossen Freiheit noch nicht zurücknehmen, noch sei es nicht an der Zeit für Plan B, sagte Gesundheitsminister Sajid Javid jüngst. Zwar warnte er, die Zahl der täglichen Neuinfektionen könne schon bald auf bis zu 100'000 steigen. Stattdessen sollten die Menschen verstärkt dazu aufgerufen werden, sich impfen zu lassen. Freudig verkündete Javid, mehr als sechs Millionen Menschen hätten bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten.



Wie das Online-Portal «Politico» berichtete, könnte das Kurshalten der Regierung auch finanzielle Gründe haben. Interne Dokumente, aus denen «Politico» am Dienstag zitierte, geben den Schaden für die britische Wirtschaft durch einen fünfmonatigen Plan B mit Maskenpflicht und Homeoffice mit bis zu 18 Milliarden Pfund (21,4 Mrd Euro) an.

Besonders die Jugendlichen machen Sorgen

Warum Grossbritannien erneut zum Sorgenkind in der Pandemie zu werden droht, dürfte verschiedene Gründe haben. Womöglich wird den Briten ihr Impfwunder nun teilweise zum Verhängnis, weil die Wirkung bei vielen bereits nachlässt, wie ein Datenjournalist der «Financial Times» (FT) mutmasst. Ein Effekt, der sich auch in Israel gezeigt hatte.

Ein Vergleich der Statistiken verschiedener Länder zeige auch, dass die völlig uneingeschränkten Menschenansammlungen in Innenräumen einen grossen Anteil haben dürften, so «FT»-Journalist John Burn-Murdoch auf Twitter.

Mit Besorgnis beobachten Epidemiologen die geringe Impfquote bei Jugendlichen in Grossbritannien. (Symbolbild)
Mit Besorgnis beobachten Epidemiologen die geringe Impfquote bei Jugendlichen in Grossbritannien. (Symbolbild)
Bild: Keystone/AP Pool Getty

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College in London. Er blickt vor allem mit Sorge auf die besonders hohen Infektionsraten unter Jugendlichen. 12- bis 15-Jährige in England werden bislang nur einmal geimpft, und die Impfrate ist niedrig. Er fordert daher eine Zweitimpfung für Jugendliche und eine Beschleunigung der Impfkampagne insgesamt.

Von Christoph Meyer, dpa