Gipfel in Brüssel Nato will sich China vorknöpfen

Von Ansgar Haase, dpa

14.6.2021 - 07:32

Rapider Ausbau des Atomwaffenarsenals, regelmässiger Einsatz von Desinformationen, ein Mangel an Transparenz: Die Nato sorgt sich um Entwicklungen in China – und will bei ihrem heutigen Gipfel deutliche Signale senden. 

14.6.2021 - 07:32

Was im fernen China passiert, hatte für die Nato lange kaum eine Bedeutung. Beim Gipfel in Brüssel soll nun neuen Bedrohungsanalysen Rechnung getragen werden. Vor allem ein Land hat darauf gedrängt.

Austrittsdrohungen, Alleingänge und verbale Angriffe auf Bündnispartner: Für die Nato war die Amtszeit von US-Präsident Donald Trump eine Schreckenszeit. Beim ersten Gipfel mit seinem Nachfolger Joe Biden will sich die transatlantische Allianz an diesem Montag wieder in Bestform präsentieren und klare Botschaften an mögliche Gegner senden. Ein Überblick:

China – die neue Bedrohung

«Wir erkennen an, dass Chinas wachsender Einfluss und seine internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen bergen, die wir gemeinsam als Bündnis angehen müssen.» Als sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten 2019 zum ersten Mal in einer Gipfelerklärung zu China äusserten, gab es lediglich diesen einen Satz und die Wortwahl war noch sehr bedächtig. Beim Spitzentreffen in Brüssel soll die Sprache nun wesentlich härter werden – vor allem auf Druck der USA hin.

Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur ist geplant, im Abschlusskommuniqué erstmals klar festzuhalten, in welchen Bereichen der Kurs Chinas für Besorgnis erregt. Dazu gehören der rapide Ausbau des Atomwaffenarsenals, der regelmässige Einsatz von Desinformationen, ein Mangel an Transparenz, aber auch Verstösse gegen aus Nato-Sicht grundlegende Werte. Das Bündnis will China aufrufen, seiner Rolle aus Grossmacht gerecht zu werden und verantwortlich zu handeln.



Zugleich soll betont werden, dass die Nato nach Möglichkeit einen konstruktiven Dialog mit China aufrechterhalten will und auch für eine Zusammenarbeit in Bereichen wie Klimaschutz offen ist.

Warum die USA beim Thema China so viel Druck machen? In der nationalen Sicherheitsstrategie von US-Präsident Biden heisst es, das Land sei «der einzige Konkurrent, der potenziell in der Lage ist, seine wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht zu kombinieren, um eine nachhaltige Herausforderung für ein stabiles und offenes internationales System darzustellen». Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte zuletzt immer wieder, China verfüge bereits heute über die grösste Marine und über den zweitgrössten Verteidigungshaushalt der Welt. China werde bald auch die grösste Volkswirtschaft der Welt sein.

Russland – die alte Bedrohung

Desinformationskampagnen und böswillige Cyberaktivitäten, die versuchte Einmischung in US-Wahlen, der Fall Nawalny sowie fortgesetzte Verstösse gegen die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine: Die Liste der Vorwürfe, die die Nato gegen Russland erhebt, ist lang. In Reaktion darauf werden sich die Bündnispartner laut US-Angaben nun zur Umsetzung neuer militärischer Konzepte und Strategien verpflichten. Diese sollen die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten der Nato stärken. Gearbeitet wird im Bündnis zum Beispiel an einer militärischen Reaktion auf das Aus für den INF-Vertrag über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen. Sie sieht unter anderem vor, die Luft- und Raketenabwehr zu verbessern. Zugleich will die Nato allerdings noch einmal betonen, dass sie weiter offen für Dialog mit Moskau ist.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Manöver der Nato-Streitkräfte. (Archiv)
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Manöver der Nato-Streitkräfte. (Archiv)
Bild: Keystone

Bündnisfall bei Weltraumkrieg

Weltraumwaffen waren lange Science-Fiction-Elemente. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Nato will beim Gipfel beschliessen, dass Angriffe aus oder im Weltraum künftig nach Artikel 5 zur kollektiven Verteidigung als Bündnisfall behandelt werden können – also so wie bislang Angriffe am Boden oder im Luft-, See- oder Cyberraum.

Relevant ist die Entscheidung vor allem deswegen, weil Angriffe auf Satelliten im Fall eines Krieges genutzt werden könnten, um Teile des öffentlichen Lebens lahmzulegen. So könnten zum Beispiel die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, Handynetze oder Navigationssysteme für den Strassen-, See- und Luftverkehr schwer beeinträchtigt werden. Denkbar ist auch, dass Satelliten als Trägersysteme für Waffen genutzt werden, die dann auf Ziele auf der Erde gerichtet werden.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die Nato den Aufbau eines Space Centers angekündigt. Er soll an das Luftwaffenoberkommando der Nato im rheinland-pfälzischen Ramstein angegliedert werden und vor allem als Koordinationsstelle für die Weltraumüberwachung dienen.

Drohkulisse für Hacker und Cyberkrieger

Bislang konnten sich die Verantwortlichen für Cyberangriffen relativ sicher sein, dass sie es nach einer folgenschweren, aber nicht verheerenden Attacke nicht mit der Nato zu tun bekommen. Das wird künftig anders sein. Die Staats- und Regierungschefs wollen festhalten, dass künftig auch dann der Bündnisfall ausgelöst werden könnte, wenn sich herausstellt, dass ein Angreifer eine ganze Serie von «normalen» Angriffen zu verantworten hat. Vor allem Russland waren zuletzt immer wieder Hackerangriffe auf Nato-Staaten vorgeworfen worden. So sollen Geheimdienstler aus dem Land unter anderem für die Angriffe auf den Deutschen Bundestag im Jahr 2015 verantwortlich sein.

Mehr Geld für das Bündnisbudget

Nato-Generalsekretär Stoltenberg wollte eigentlich erreichen, dass die Staats- und Regierungschefs zusagen, die Gemeinschaftsausgaben der Allianz in den kommenden Jahren deutlich zu erhöhen. Daraus dürfte allerdings nichts werden. Nach Informationen der dpa hat vor allem Frankreich verhindert, dass grosse Versprechungen gemacht werden – das Land beharrte darauf, dass die Bündnisstaaten besser ihre nationalen Verteidigungsausgaben erhöhen sollten. Demnach soll nun lediglich festgehalten werden, dass die Gemeinschaftsausgaben ab 2023 «wenn notwendig» angehoben werden – mit der zusätzlichen Einschränkung, dass Budgeterhöhungen bezahlbar, verantwortlich und nachhaltig sein müssen.

Die grosse Strategie

Die neuen gemeinschaftlichen Analysen zu China und Russland sollen in den kommenden Monaten genutzt werden, um das strategische Konzept des Bündnisses überarbeiten. Die aktuelle Fassung war 2010 beschlossen worden. Damals hatten die Alliierten beispielsweise noch gehofft, dass die grossen Spannungen mit Russland vorbei seien. Es folgten dann allerdings Entwicklungen wie der Ukraine-Konflikt und der weitere Aufstieg Chinas zu einer militärischen Weltmacht.

Von Ansgar Haase, dpa