Stillstand in Deutschland Die Oma muss warten, die Feuerwehr auch

Von Andreas Fischer, Leipzig

27.3.2023

Streik in Deutschland – Leipzig steht still

Streik in Deutschland – Leipzig steht still

Deutschland steht am Montag still: Zwei grosse Gewerkschaften senden ein deutliches Signal an die Arbeitgeber. Wie hier in Leipzig haben sie den Verkehr in weiten Teilen des Landes lahmgelegt – und drohen mit unbefristeten Streiks.

27.03.2023

Die Gewerkschaften wollen Deutschland notfalls wochenlang lahmlegen. Unserem Autor hat schon ein Tag gereicht. Über einen Montag, an dem in Leipzig nichts mehr ging.

Von Andreas Fischer, Leipzig

27.3.2023

Meine Tochter durfte heute nach vier Tagen wieder in den Kindergarten. Vor dem Wochenende war die Einrichtung zwei Tage geschlossen. Es ist nicht der erste Warnstreik im öffentlichen Dienst in Deutschland in diesem Jahr. Für meine Sechsjährige ist das nicht so schlimm, sie freut sich, wenn sie zu Hause ist oder von den Eltern befreundeter Kinder betreut wird, weil wir arbeiten müssen.

Heute aber fand meine Tochter den «Megastreik», der den Verkehr in Deutschland in weiten Teilen lahmlegt, nicht so toll. Es stand nämlich ein Besuch bei der Feuerwehr auf dem Programm. Alle Vorschüler ihres Kindergartens wollten mit dem Tram zur Feuerwache fahren: Die Rutschstangen runterzurutschen und in Feuerwehrautos zu klettern ist ein ziemlich faszinierendes Abenteuer, wenn man klein ist. Seit Wochen hatte sich meine Tochter darauf gefreut.

Doch daraus wird nichts. Leipzig steht heute still. Kein Tram, kein Bus, keine S-Bahn – nichts fährt.

Vertrösten muss ich nicht nur meine Tochter, sondern auch meine Oma. Sie wohnt in der Nachbarstadt Halle, etwa 30 Kilometer von Leipzig entfernt. Ich hätte sie eigentlich gerne besucht heute. Aber ich weiss nicht, wie ich hinkommen soll.

«Hier fährt heute kein Zug»

Dass wirklich nichts geht, oder besser gesagt fährt, in Leipzig ist auch für mich neu. Ich kann es, trotz der Ankündigungen der Gewerkschaften, nicht glauben und versuche trotzdem mein Glück. Der Weg zur S-Bahn-Station ist nicht weit, es ist nur ungewöhnlich, mit dem Velo durch eine quasi Geisterstadt zu fahren.

An der S-Bahn-Station habe ich sogar kurzzeitig Hoffnung: Die Abfahrtstafeln aktualisieren sich artig. Normalerweise fährt hier alle paar Minuten eine S-Bahn aus Leipzig in das Umland. Allerdings: Nach wenigen Minuten ahne ich, dass sich die Deutsche Bahn einfach nicht die Mühe gemacht hat, die Anzeige mit einer Streikmeldung zu versehen. Man könnte glauben, weiterhin nach Altenburg und Zwickau fahren zu können, oder alle zehn Minuten nach Halle. Zumindest laut Abfahrtstafel.

«Hier fährt heute kein Zug», bestätigt ein Mann, was ich wider besseren Wissens nicht wahrhaben will. Er sitzt seit einer halben Stunde auf dem unterirdischen Perron, erzählt er mir. Oben ist es ihm zu kalt. «Ausserdem ist es so schön ruhig heute.»

Es führt kein Weg zur Oma

Ein Streik hat Auswirkungen auf die Menschen. Mal grössere, wenn sie zur Arbeit oder zum Arzt kommen müssen. Mal kleinere, wenn sie die Oma in der Nachbarstadt besuchen wollen. Normalerweise könnte ich mit dem Velo fahren. 30 Kilometer hin, 30 Kilometer zurück: Ich habe schon längere Strecken bewältigt. Aber heute ist es mir zu ungemütlich. Fünf Grad Celsius, ein fieser Wind, immer wieder Regen- oder Hagelschauer.

Carsharing fällt als Alternative aus. Es sind kaum Fahrzeuge verfügbar für einen Zeitraum von mehreren Stunden. Die Menschen haben sich auf den Streik vorbereitet und sich seit der Ankündigung am vergangenen Donnerstag alternative Fortbewegungsmittel organisiert. Die wenigen verfügbaren Autos sind meistens viel zu gross und/oder stehen am Rande der Stadt. Da müsste ich mit dem Velo auch erstmal hinkommen.

Impressionen der Leere am Hauptbahnhof

Ich probiere mein Glück noch mal: auf dem Hauptbahnhof. Aber auch dort ist natürlich nichts los. Eine Gruppe junger Männer nimmt eine Abkürzung zu den privaten Fernbussen, einzelne Menschen wollen das imposante Gebäude mal ganz in Ruhe geniessen und einige Journalistinnen sammeln Impressionen der Leere.

Eine der wenigen Menschen, die heute auf dem Hauptbahnhof Leipzig arbeiten, ist Franka Schmitz, und zwar seit fünf Uhr. Sie ist Angestellte einer Bäckereikette und verkauft an einem Stand zwischen zwei Fernverkehrsgleisen Kaffee, Gipfeli und belegte Brötchen. Ihr Chef hat entschieden, dass der Stand geöffnet wird, auch wenn der Umsatz erwartungsgemäss gen Null tendiert.

Normalerweise bedient Franka Schmitz 160 Kunden pro Stunde, erzählt sie. Heute waren es bis 10.30 Uhr exakt 17. Die Verkäuferin schaut extra noch einmal nach: «Den ersten Verkauf hatte ich um 6.42 Uhr, den letzten vor wenigen Minuten.»

Auch wenn sie nichts verkauft, untätig will Franka Schmitz nicht sein und putzt die Glasscheiben ihres Standes. Die Forderungen der Streikenden hält sie für angebracht: «Alles wird teurer, und sie müssen ihre Familien ja ernähren. Die Menschen haben es heutzutage nicht leicht mit der Inflation und all den Krisen.» Es müssten einfach alle mal streiken, sagt Schmitz noch.

Ähnlich tönt es auch auf der Strasse. Befragte Passanten äussern ausnahmslos Verständnis. Manche wollen es «denen da oben mal richtig zeigen». «Wir müssten einen Generalstreik machen», fordern ein älteres Paar und ein Mann in den Fünfzigern. Anders als die Franzosen liessen sich die Deutschen viel zu viel gefallen. Der Frau würde es auch nichts ausmachen, «wenn ein paar Mülltonnen brennen».

«Unbefristet heisst unbefristet»

Die Streikenden selbst sind entschlossen, den Arbeitskampf mit aller Härte fortzuführen. «Geld ist in diesem Land offenbar genug da», sagt Paul Schmidt, bei der Gewerkschaft Verdi Fachbereichsleiter für den öffentlichen Dienst in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, am Rande der Streikkundgebung. «Die Politik muss nur anfangen, es anders zu verteilen.»

Mit dem Streik heute wolle man ein deutliches Signal senden, damit es in den Tarifverhandlungen doch noch vorangehe. «Im Idealfall, das ist unser expliziter Wunsch, kommen wir bis Mittwoch zu einer Einigung.» Wenn das nicht gelingt, folgt eine Schlichtung.

Komme es auch dabei nicht zu einer Einigung, stimmen die Gewerkschafter ab, ob sie in einen unbefristeten Streik treten wollen. «Und unbefristet heisst unbefristet», sagt Schmidt mit Nachdruck. «Wir sind willens und in der Lage, notfalls den kompletten öffentlichen Dienst in Deutschland wochenlang zu bestreiken.»

«Die Gurke wird nicht wieder günstiger»

Es gibt Stimmen, die die Forderung von 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr Lohn pro Monat, kritisch sehen. «Muss ein Angestellter mit 6000 Euro Monatsverdienst wirklich noch einmal 630 Euro mehr bekommen?», wird in meinem Umfeld zuletzt häufiger gefragt. Oder wäre das Geld nicht besser investiert in neues Personal und einer angemessenen Ausbildungsvergütung?

Schmidt wischt solche Bedenken beiseite. Die Tarifverhandlungen seien eine «reine Entgeltrunde»: «Wir fordern den Mindestbetrag, damit die unteren Entgeltgruppen spürbar profitieren. Sie sind von der Inflation natürlich stärker belastet. Aber auch die höheren Entgeltgruppen arbeiten für ihr Geld, erbringen eine Leitung und haben Verantwortung.»

Die von den Arbeitgebern angebotene Einmalzahlung von 2500 Euro könne Teil eines Tarifpakets sein, sie ersetze aber keine Lohnerhöhung. «Die Inflationsausgleichszahlung bringt kurzfristig eine Entlastung, das ist klar. Aber sie kann nicht die Inflationsraten von eineinhalb Jahren ausgleichen. Die Gurke wird nicht wieder günstiger, und die Heizkosten werden nicht wieder auf Vorkriegsniveau sinken.»

Alles für ein bisschen mehr Geld

«Die 500 Euro müssen stehen», sagt auch ein streikender Busfahrer. Die Kollegen bei anderen Unternehmen in der Region «haben alle mehr als wir»: Mike Preuss sieht das nicht ein. «Ein bisschen mehr Geld wäre schön.» Dafür will er so lange wie nötig streiken.

Für Verkäuferin Franka Schmitz wäre das dann allerdings zu viel des Guten. Sie sorgt sich: «Wie sollen denn dann die ganzen alten Leute zum Arzt kommen? Und auch für die Arbeiter wird es dann schwierig: Sie müssten ihre ganzen Urlaubstage aufbrauchen, wenn sie nicht zur Arbeit kommen.» An diese Menschen müsse man auch denken.

Ich denke an meine Oma und an meine Tochter. Nach Halle werde ich übermorgen fahren, und dann in den nächsten Wochen so oft ich kann. Für meine Tochter kann ich nur hoffen, dass Kindergarten und Feuerwehr schnell einen Ersatztermin für den Besuch finden.