Mitten in Putins HerzDer unerhörte Vorstoss der ukrainischen Armee
Von Philipp Dahm
12.9.2022
Gebiete, die Russland in Monaten mühevoll erobert hat, gehen in wenigen Tagen verloren: Die ukrainische Gegenoffensive ist ein Desaster für den Kreml, das Putin auf ganz verschiedenen Ebenen schmerzt.
Von Philipp Dahm
12.09.2022, 16:32
12.09.2022, 16:34
Philipp Dahm
Seit Wochen wartet die Welt auf die ukrainische Gegenoffensive bei Cherson im Süden des Landes. Und es wirkt, als lege sich Kiew den Feind im Stil eines Boxers zurecht. Erst werden diverse Brücken in der Region zerstört, dann fliegen Nachschublager und Verkehrsknotenpunkte im weiteren Umfeld in die Luft.
Die russische Armee versucht mit aller Macht, so viele Soldaten wie möglich nachzuführen, um zu verhindern, dass Cherson fällt. Es fällt auf, dass die Ukrainer*innen auf Social Media Funkstille halten – und mancher Beobachter spekuliert schon, ob Kiew nicht ganz andere Ziele verfolgt.
Nun ist klar: Der angekündigte Angriff auf Cherson ist eigentlich nur die Vorbereitung des Angriffs in Charkiw im Osten des Landes, wo die ukrainischen Streitkräfte massiv Boden gutgemacht haben. Innerhalb weniger Tage haben sie ein Gebiet zurückerobert, das die Invasoren in mehreren Monaten mühevoll eingenommen hatten.
Der Verkehrsknotenpunkt Kupjansk mit seinem Bahnanschluss ins russische Belgorod? Verloren. Isjum, das als Zentrum der russischen Armee im Oblast gilt? Verloren. Erst kurz vor dem Eisenbahn-Knoten Lyman, wo bereits der Oblast Donezk beginnt, können die ukrainischen Streitkräfte gestoppt werden, die weiter im Osten bis an die Grenze zu Russland vordringen.
Putins Problem #1: Miese Moral
Die Front verläuft nun hinter Isjum am Fluss Oskol. Von dort aus bedroht die ukrainische Armee die Stadt Swatowe, durch die mit der Strasse P-66 der Nachschubweg Richtung Sjewjerodonezk und Lyssytschansk führt. Die beiden Städte waren gerade erst in der Schlacht um den Donbass unter massivstem Artilleriebeschuss eingenommen worden.
IZIUM/2100 UTC 11 SEP/ Sources indicate that the transportation junction of Lyman has been liberated, and UKR forces are now driving for the P-66 HWY north of Sievrodonetsk. Partisans have reported that a series of RU convoys were headed south out of Savatove at high speed. pic.twitter.com/3EdLKEywST
Ein Video zeigt angeblich, wie russische Soldaten auch Swatowe bereits fluchtartig verlassen. Das ist vielleicht das grösste Problem für Moskau: Die Moral der eigenen Truppe bleibt offenbar extrem tief. Befeuert wurde der russische Rückzug angeblich von der ukrainischen Artillerie.
Die hat demnach zu Beginn der Gegenoffensive Projektile mit je 1500 Flugblättern abgeschossen, auf denen die gegnerischen Soldaten aufgefordert wurden, die Waffen zu strecken. Die diversen Bilder fliehender Russen auf Social Media mögen Propaganda sein, doch sie fügen sich nahtlos in das Bild einer Truppe ein, die nicht nur unterbezahlt und schlecht ausgerüstet, sondern insgesamt unwillig ist, in der Ukraine zu kämpfen. Die jüngsten militärischen Misserfolge dürften den Trend weiter verstärken.
Putins Problem #2: Empfindliche Materialverluste
Es ist zwar ein widersinniger Gedanke, doch selbst Russland verfügt nicht über unendlich viel Gerät und Munition. Weil die heimische Produktion durch die Sanktionen insbesondere im Hightech-Bereich inzwischen nachhaltig gestört ist, kauft Moskau nicht von Ungefähr nun Waffen im Ausland.
Aus dem Iran bezieht Wladimir Putin Drohnen, und Nordkorea liefert Munition und Raketen. Und nun verschärft der Zusammenbruch der Front in Charkiw dieses Problem erheblich, wie Bilder im Internet beweisen. Die Fotos und Videos zeigen erbeutete Drohnen, Traktoren, die Panzer abschleppen und anderes massenhaft zurückgelassenes Material.
Ukrainian Army seized Russian Orlan drones with all of their accessories, documentation and launch station.
Ganz anders dagegen die ukrainischen Streitkräfte: Die feiern nicht nur wegen der engen Kooperationen mit US-Geheimdiensten Erfolge, die sie zeitnah mit wichtigen Daten vom Schlachtfeld versorgen, sondern können auch dank der modernen westlichen Waffen vorrücken. So hätten gerade die Anti-Radarrakete AGM-88 Harm und der deutsche Flakpanzer Gepard dafür gesorgt, dass die russische Luftwaffe kaum etwas gegen die ukrainische Offensive ausrichten konnte, berichtet der «Economist».
Putins Problem #3: Unmut in Russland wächst
Die russische Armee tut zwar weiterhin so, als sei das Vorrücken des Feindes völlig unproblematisch. Das Verteidigungsministerium verkauft den eigenen Rückzug auf Telegram nach wie vor als Umgruppierung, durch die Artillerieangriffe verhindert werden sollten. Die Attacken der ukrainischen «Nationalisten» seien samt und sonders zurückgeschlagen worden, heisst es.
Der britische Sender Sky News ist mit Reporterin Deborah Haynes in^m Oblast Charkiw vor Ort.
Doch hinter den Kulissen beginnt es, zu brodeln. Erst meldet sich der tschetschenische Diktator Ramsan Kadyrow in einer bizarren Audio-Botschaft zu Wort, in der er Fehler der militärischen Führung kritisiert. Dann fordert eine Gruppe von Parlamentariern Konsequenzen von Putin, die ausgerechnet aus dessen Heimatstadt St. Petersburg kommen. Auch in Moskau regt sich angeblich Widerstand gegen den 69-Jährigen.
Mittlerweile wird sogar auf einem Telegram-Kanal, der eigentlich Propaganda für den Krieg macht, offen mit einem Regimewechsel geliebäugelt: «Wir werden diese Regierung bei den Wahlen 2024 nicht unterstützen», heisst es dort. Putin habe immer grössere Probleme, die Realität mit dem Mythos der unbezwingbaren Armee unter einen Hut zu bringen, analysiert die «New York Times»: Bis jetzt habe sich der Ärger über Verluste auf die militärische Führung konzentriert, doch der Präsident gerate immer mehr selbst in den Fokus.
Die Aussichten: Schwarzer Herbst für Putin?
Abhilfe ist für den 69-Jährigen nicht in Sicht. Im Gegenteil: Russland hat nicht genug Soldaten, um in Charkiw einen Gegenangriff zu starten. Und in Cherson droht vielen Tausend Soldaten nach wie vor die Einkesselung in einem Gebiet, in dem sie vom Fluss Dnjepr und seinem Seitenarm Inhulets eingeschlossen sind.
Russland reagiert auf den unerhörten Vorstoss des Gegners mit Panik. Das zeigt sich zum einen am Grenzübergang Richtung Belgorod, wo fliehende Zivilisten und Kollaborateure die Strassen verstopfen. Und zum anderen im jüngsten Angriff auf ukrainische Infrastruktur: Es sind angeblich zwölf Raketen im Wert fast 100 Millionen Dollar, die Russland vom Kaspischen Meer aus abfeuert, um in Poltawa und Charkiw zurückzuschlagen.
Der Effekt: Für wenige Stunden fallen in den Oblasten Strom und Wasser aus. Das Gros der Schäden ist mittlerweile aber wieder behoben. Gleichzeitig verliert Moskau laut «Forbes» derzeit pro Tag mindestens ein Bataillon, also rund 1000 Soldaten plus Kriegsgerät. Diese Verlustrate ist weder finanziell noch mit Blick auf die Sollstärke der Truppe zu verkraften.
Die 3. Armee, die der Kreml gerade aus dem Boden gestampft hat, ist in Charkiw bereits wieder zusammengeschossen worden. Verstärkungen wären allenfalls durch eine Mobilisierung möglich, die innenpolitisch jedoch die Büchse der Pandora öffnen könnte. Doch selbst diese käme zu spät: In rund drei Wochen wird Regen das Schlachtfeld unpassierbar machen, bevor der Winter die Fronten dann vorerst einfriert.