Drei Monate Chaos Der Spaltpilz Europas: Wie 100 Tage Populismus Italien verändert haben

dpa

7.9.2018

Nach 100 Tagen im Amt hat die Populisten-Regierung in Rom eines vorzuweisen: Sie steht auf Kriegsfuss mit der EU. Sonst fällt die Bilanz eher karg aus. Nun steht ein heisser Herbst an.

Es ist schon ein merkwürdiges Land, in dem den Regierungschef kaum einer kennt. Und in dem dessen Stellvertreter seinen Job erledigen. An der italienischen Politik konnte man schon seit Jahrzehnten einiges merkwürdig finden. Die Populisten-Regierung stellt allerdings so einiges in den Schatten, was man aus Rom gewohnt ist.

Dieses Wochenende sind die Fünf-Sterne-Protestbewegung und die rechte Lega seit 100 Tagen in Rom an der Macht. Es sind drei Monate voller Chaos, voller Drohungen und voller Schuldzuweisungen - vor allem in Richtung Europa, dem Sündenbock der Populisten-Allianz. Beim Volk kommen sie trotz aller Kritik bestens an.

Offiziell ist der parteilose Anwalt Giuseppe Conte Ministerpräsident. Aber: «Die Leute nennen Conte den Stellvertreter seiner Stellvertreter», sagt Lorenzo Pregliasco vom Wahlforschungsinstitut YouTrend. In Anlehnung an Vorbild Donald Trump mischt vor allem Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini das Land auf und präsentiert sich als der starke Mann. Obwohl er zusammen mit dem Anführer der Fünf Sterne, Arbeitsminister Luigi Di Maio, eigentlich nur Vize-Premier ist.

Spaltpilz Europas

«Es geht nur darum, Schlagzeilen zu machen. Es geht nicht um Fakten. Es dreht sich alles um Facebook, Twitter und Likes, nicht um Politik», sagt Wolfango Piccoli von der Denkfabrik Teneo.

Mal ist Salvini mit Shirt und Shorts beim Formel-1-Rennen in Monza, dann lässt er sich unter Sonnenschirmen am Strand interviewen oder schwimmt in Ex-Mafia-Pools. Er erklärt seinen «amici», also Facebook-Freunden, warum er nicht aufgibt, warum sein Lieblingsfeind, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, ein Heuchler und die EU so überflüssig wie ein Kropf ist. Er, der hemdsärmelige «Capitano», steht dem italienischen Volk nahe. Das ist die Botschaft, die Salvini so exzellent herüberbringt.

Dass er dabei stets die Grenzen des Anstands übertritt, den Nährboden für Rassismus bereitet, tut seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Offenkundig mögen viele Italiener die Rolle ihrer Regierung als Spaltpilz Europas, die sich mit Erpressungsversuchen wie bei Schiffen mit Migranten international Gehör verschafft.

Lega im Aufwind

Seine Lega liegt in Umfragen bei knapp 32 Prozent - bei der Wahl im März war sie auf 17 Prozent gekommen. Migranten beschimpft er als «Illegale», als «Menschenfleisch». Ermittlungen der Justiz wegen Freiheitsberaubung, weil er Migranten tagelang auf dem Schiff «Diciotti» festgehalten hatte, schadeten ihm bisher nicht.

Salvini habe nicht nur die Ambitionen, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen, «er führt das Amt bereits aus», sagt Piccoli. Das Nachsehen hat Sterne-Anführer Di Maio, der mit seinem Job im Arbeitsministerium bisher weniger punkten kann. Er fokussierte sich auf das sogenannte «Würde-Dekret», in dem er Punkte der Arbeitsmarktreform der Vorgängerregierung rückgängig gemacht hat. Aber ansonsten zeichnet sich schon ein Mini-Sternenglühen ab - ihre Popularität sinkt leicht. Doch insgesamt kommt diese seltsame Allianz in Umfragen immer noch auf etwa 60 Prozent.

Es ist eine ungute Atmosphäre im Land, durchdrungen von Misstrauen und Hass, von Schuldzuweisungen und mangelnder Bereitschaft, selbst Verantwortung zu übernehmen. «Die Regierung hat in diesen Monaten nichts anderes getan, als die Öffentlichkeit mit einer diskriminierenden Sprache zu terrorisieren», sagte Kumi Naidoo von Amnesty International der Zeitung «Repubblica». Kein Wunder, dass Italien das Land in der EU ist, in dem die meisten Menschen eine Fehleinschätzung über die wahre Zahl der Migranten im Land haben.

Arbeitslosigkeit bei mehr als zehn Prozent

Salvini rühmt sich damit, dass die Ankünfte in Italien durch seine Hafenblockade für Rettungsschiffe so niedrig wie seit fünf Jahren nicht mehr waren. In der Tat kamen im August nur noch 1491 Migranten an, im August des Vorjahres waren es noch 4317. Dass dabei vergleichsweise mehr Menschen auf der Fahrt über das Mittelmeer sterben, verschweigt Salvini.

Das Land hat ganz andere Probleme als Migranten. Schrumpfende Geburtenrate, Bürokratie, schlechte Infrastruktur, jahrelange Gerichtsverfahren und ein im EU-Vergleich unterdurchschnittliches Wirtschaftswachstum. Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei mehr als zehn Prozent.

«Der internationale Aufschwung und ein paar Massnahmen der vorherigen Regierungen haben den Enthusiasmus einiger Unternehmer wieder entfacht», sagte Giulio Pedrollo vom Industrieverband Confindustria. «Aber das, was seit dem Frühjahr vor sich geht, hat diesen Enthusiasmus wieder eingefroren.»

Opposition kann Uneinigkeit nicht für sich nutzen

Im Herbst muss die Regierung die Karten auf den Tisch legen und die Haushaltsplanung für das nächste Jahr vorlegen. Ist der nächste Konflikt mit der EU vorprogrammiert? Die Parteien widersprechen sich in ihren Aussagen, ob sie die EU-Defizitregeln einhalten werden oder nicht. Da Italien so hoch verschuldet ist wie kaum ein anderes Land der Welt, sind grosse Sprünge kaum drin. Wahlversprechen wie die Flat Tax, also niedrigere Steuersätze, oder ein Bürgereinkommen für alle werden schwierig umzusetzen seien. Sie würden bis zu 125 Milliarden Euro kosten, schätzt Wirtschaftsexperte Carlo Cottarelli.

Nach aussen gibt sich die ungewöhnliche Koalition aus Technokraten und Verkündungspolitikern zwar gerne geschlossen. Doch an Kernpunkten wird deutlich, dass sie vereint in der Uneinigkeit sind. Mega-Infrastrukturprojekte wie die Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon-Turin (TAV) lehnen die Fünf Sterne ab, genauso wie den Bau der Gaspipeline TAP. Die Lega ist dafür. Die Sterne finden Verstaatlichungen gut, wie bei der Krisenairline Alitalia und auch dem Brückeneinsturz von Genua, nach dem die Sterne am liebsten alle Autobahnen verstaatlichen würden - die Lega dagegen nicht.

Immer wieder wird über einen möglichen baldigen Bruch der Koalition spekuliert. Doch auch eine Neuwahl würde nicht das Ende des lärmenden Populismus' bedeuten. Die Opposition kann die Uneinigkeiten der Regierenden nicht für sich nutzen. Die Sozialdemokraten verlieren sich in Grabenkämpfen, haben keine Führungsfigur und keinerlei Rückhalt im Volk. Die konservative Forza Italia von Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat mit ihrem alternden Chef die Erneuerung verpasst. Es ist ebenfalls ein merkwürdiges Zeichen, wenn linke Wähler sagen: «Selbst unter Berlusconi war es besser.»

Abschied von den Opfern des Brückeneinsturzes in Genua
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