Schulbeginn in der Ukraine «Dann sitzen wir, bis der Alarm endet»

red

25.9.2022

School_Interview_MASTER

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21.09.2022

12’906 Schulen haben mit dem Unterricht in der Ukraine begonnen. blue News konnte mit Frau Olga* sprechen. Die Rektorin der Akademie für moderne Bildung in Kiew sagt, dass sie nun mehr Schüler*innen hat als vor dem Krieg und dass Kinder furchtlos sind.

red

25.9.2022

Was machen die Angriffe auf Kiew mit den Kindern?
Kinder haben vor nichts Angst. Ertönt der Alarm, sind wir Erwachsenen besorgt und reissen uns zusammen. Wir gehen mit den Kindern in die Schutzräume und singen Lieder. Die Schüler*innen vertrauen uns und verfallen nie in Panik oder weinen. Sie sind an diese Sirenen gewöhnt und sehen sie als etwas, das zu ihrem Leben gehört. Aber sie verstehen genau, was vor sich geht. Bereits dreijährige Kindergartenkinder wissen, was ein Schutzraum ist und wovor er sie schützt. Die Kinder nehmen solche Bedrohungen schlichtweg leichter.

Wie empfinden Sie den Beginn des neuen Schuljahres in der Ukraine?
Eigentlich war es ein Erfolg. Denn das Bildungsministerium hat uns ermöglicht, das Schuljahr offline zu starten. Lehrer*innen sahen also ihre Schüler*innen und deren Eltern von Angesicht zu Angesicht. Nichts kann das gesprochene Wort einer Lehrperson ersetzen. Erschwerend hinzu kommt, dass die Kinder beim Online-Unterricht nicht wirklich unter sich kommunizieren können und die Sozialisierung so erschwert wird.

Wie lange haben Sie sich vorbereitet?
Nachdem das letzte Schuljahr endete, begannen wir sofort mit den Vorbereitungen im Mai. Wegen des Krieges befand sich das ukrainische Bildungssystem in einer völlig neuen Realität. So teilte uns der staatliche Katastrophenschutz Schutzräume zu. Dies, obwohl wir noch gar nicht wussten, ob und wann wir den Unterricht aufnehmen können. Wir bereiteten uns auf verschiedene Szenarien vor.

Unterrichten Sie nun in einem Luftschutzkeller?
Nicht ganz. Wir unterrichten in zwei Gebäuden, die beide über einen Keller verfügen. Eines der beiden ist gut ausgestattet, da es vor dem Krieg eine Musikschule war. Beide Keller statteten wir mit Sitzgelegenheiten und Feuerlöschern aus. Uns ist klar, dass wir nur über einfache Schutzräume verfügen, die Gefahren bergen. Aber das Bedürfnis zu lernen ist grösser als die Angst.

Fühlen Sie sich sicher?
Wir haben Verstärkungen an den Decken angebracht, die uns vor Artillerie schützen können, aber nicht vor Raketen. Wir müssen also auf unsere Luftverteidigung vertrauen. Heute Morgen führten wir mit den Schüler*innen eine Notfall-Übung durch, bei der alles reibungslos funktionierte. Das ist unsere neue Realität.

Wie wurden die Lehrpersonen geschult?
Seit Ende Februar entwickeln wir Handlungsanweisungen für den Ernstfall – denn jeden Tag kann es zu einem Angriff kommen. Im Rahmen dieser Schulung für Lehrer*innen und Schulleitung ernannten wir Personen, die für den Einsatz von Waffen und zum Leisten von Erster Hilfe bei Verletzungen verantwortlich sind.

Was geht bei einem Ernstfall vor sich?
Ein in jedem Gebäude angebrachtes Warnsystem ertönt, sobald Gefahr für den Luftraum über Kiew besteht. Alle unsere Schüler*innen und Lehrpersonen begeben sich dann innerhalb von sieben Minuten in den Schutzraum. Wir sind somit schneller als die vom staatlichen Notdienst vorgegebenen zehn Minuten. Dann werden die Kinder gezählt und melden mir die Zahlen und ich informiere die Eltern. Dies, damit sie wissen, dass ihr Kind nicht auf der Toilette vergessen ging. Dann sitzen wir, bis der Alarm endet.

Inwiefern beeinflusst dies den Unterricht?
Glücklicherweise finden die längeren Alarm-Situationen jeweils nachts statt, vergangene Woche waren wir an zwei Schultagen zwei Mal für weniger als eine Stunde im Bunker. Da wir eine Ganztagsschule sind, haben wir genügend Zeit, den verpassten Stoff aufzuholen. Die Kinder kommen um 9 Uhr und gehen um 18 Uhr nach Hause. Neben dem regulären Unterricht machen wir Spaziergänge, Ateliers, Projektarbeit, Sportunterricht und Hausaufgaben.

Haben die Eltern Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken?
Natürlich.

Besuchen weniger Kinder die Schule?
Noch im Februar zählte unsere Grundschule 420 Kinder, zwischenzeitlich sank diese Zahl auf 190. Bis zu 240 Schüler*innen kamen aus kriegsgebeutelten Regionen nach Kiew in unsere Schule. Heute haben wir also 330 Grundschüler*innen, total sind 650 Kinder in meiner Schule – viel mehr als vor dem Krieg. Einige davon sind auch im Ausland und nehmen an Fernunterricht teil, der jeden Tag synchron stattfindet.

Leisten Sie auch seelische Unterstützung?
Hier liegt unser Fokus auf den Kindern, die aus anderen Regionen vertrieben wurden und in Kiew gelandet sind. Wir haben viele aus Charkiw, Mariupol, Bucha, Irpin, Saporischschja. Die Kinder sprechen aber nicht über das Erlebte. Wir haben ein Team an Schulpsychologen, das sich mit diesen Kindern auseinandersetzt. Für Kinder, die im Ausland sind und online am Unterricht teilnehmen, steht dieses Angebot ebenfalls offen, da Schulpsychologen in Westeuropa oft kein Ukrainisch sprechen. Beim Schulstoff haben wir das Fach «In der Gesellschaft», bei dem es darum geht, dass die Kinder sich und ihre Emotionen besser verstehen sollen.

Verfügen Sie über Fernlernplattformen?
Bereits seit Beginn der Covid-Pandemie arbeiten wir mit einer solchen Plattform, die von unserer Schule entwickelt wurde. Seit Ausbruch des Kriegs konnten wir wieder auf diese zurückgreifen.

Wie gehen Sie damit um, dass Sie die Verantwortung für so viele Kinder tragen?
Derzeit bin ich nicht verängstigt, obwohl die Verantwortung wirklich gross ist. Bei früheren Angriffen auf Kiew fürchteten wir um unser Leben, weil wir uns in Kellern verstecken und auf Dachböden oder online unterrichten mussten. Nun glauben viele an einen Sieg. Wohl auch, weil die Lage in Kiew derzeit sehr kontrolliert wirkt. Die Spannungen in der Bevölkerung übertragen sich auf die Kinder und so nehme ich den Puls der Kiewer*innen wahr.

*Name der Redaktion bekannt