Milde Bedingungen Breivik stellt Justizsystem Norwegens auf eine harte Probe

Von Mark Lewis, AP

22.1.2022 - 09:28

Nachdem er die Hälfte seiner Haftstrafe abgesessen hat, beantragt Anders Breivik Bewährung – und sorgt wieder für einen Eklat im Gerichtssaal. In Norwegen wächst der Unmut über den Umgang mit dem Massenmörder.

22.1.2022 - 09:28

Anders Behring Breivik verbringt seine Tage in einer geräumigen Drei-Raum-Zelle, spielt Videospiele, treibt Sport und schaut fern. Ausserdem hat der verurteilte Attentäter Fernkurse in Mathematik und Wirtschaft belegt. Auf Menschen ausserhalb Norwegens dürften die Haftbedingungen des Massenmörders befremdlich wirken.

Doch hier profitieren Häftlinge unabhängig von der Schwere ihres Verbrechens von einem Justizsystem, dass Gefangenen einen Teil der Annehmlichkeiten und Möglichkeiten eines Lebens in Freiheit bieten will. Breiviks extremer Fall allerdings stellt das norwegische Bekenntnis zu Toleranz und Rehabilitation auf eine harte Probe.

Der 42-Jährige hat die Hälfte seiner 21-jährigen Haftstrafe verbüsst und nun Bewährung beantragt. Er hatte 2011 bei zwei Terroranschlägen in Oslo und in einem Sommerlager auf der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen getötet, die meisten von ihnen Jugendliche.

«Für Gesellschaft als Ganzes extrem belastend»

«In Norwegen gab es vorher noch nie jemanden, der für ein solches Ausmass an Gewalt verantwortlich war», sagt Erik Kursetgjerde, der als 18-Jähriger das Grauen auf Utøya miterlebt hatte. «Und hier wurde debattiert, ob ein Teil des Justizsystems für jemanden wie ihn geändert werden sollte.» Er rät aber zu einem langsamen Ansatz, der nicht Breiviks Wunsch entgegenkommt, das System zu untergraben.

Anders Behring Breivik posiert am 18. Januar im Gericht in Skien.
Anders Behring Breivik posiert am 18. Januar im Gericht in Skien.
KEYSTONE

Während einer Anhörung zu seinem Antrag auf Bewährung schwor der Attentäter zwar der Gewalt ab, zeigte aber den Hitlergruss. Zudem äusserte er über Zettel rechtsextreme Botschaften, wie sie schon sein sogenanntes Manifest nach der Tat 2011 enthalten hatte. Auch in seinem Strafprozess, der zum Teil im Fernsehen übertragen worden war, hatte Breivik bereits ausschweifende Hassreden verbreitet.

«Das war für Überlebende, Hinterbliebene und die norwegische Gesellschaft als Ganzes natürlich extrem belastend», sagt die Juraprofessorin Kristin Bergtora Sandvik von der Universität von Oslo über Breiviks jüngsten Auftritt vor Gericht. Im Land werde über eine mögliche Reform der Bewährungsregelungen diskutiert, um Straftätern nicht mehr eine derartige Bühne zu bieten.

Breivik beschwert sich

2016 hatte Breivik die norwegische Regierung zunächst erfolgreich wegen Menschenrechtsverletzungen verklagt: Er beschwerte sich über seine Isolation von anderen Häftlingen, regelmässige Leibesvisitationen und die Tatsache, dass ihm zu Beginn seiner Inhaftierung häufig Handschellen angelegt worden waren. Er klagte ausserdem über die Qualität des Gefängnisessens und darüber, mit Plastikbesteck essen zu müssen und keinen Kontakt zu Anhängern haben zu können.

Der Menschenrechtsfall wurde zwar schliesslich von einer höheren Instanz gekippt. Die Episode machte jedoch die grosse Dehnbarkeit des norwegischen Strafrechtssystems deutlich, wenn es um die Rechte und Lebensbedingungen von Gefangenen geht. «Seine Bedingungen sind nach norwegischen Standards exzellent», sagt Breiviks Gefängnispsychiaterin Randi Rosenqvist. Sie erklärte bei der Bewährungsanhörung, dass der Attentäter nach wie vor eine Gefahr für die Öffentlichkeit sei.

Doch selbst nach seinem Auftritt dort scheinen die norwegischen Behörden nicht von ihrer Linie abweichen zu wollen, Breivik wie jeden anderen Insassen der Strafanstalt Skien zu behandeln. «Bei einer nordischen Haftstrafe besteht die Hauptbestrafung im Entzug der Freiheit», erklärte der Juraprofessor Johan Boucht von der Universität von Oslo, der auch in Schweden und Finnland gearbeitet hat.

«Milde und menschenwürdige Kriminalpolitik»

«In allen nordischen Staaten basiert das System auf einer milden und menschenwürdigen Kriminalpolitik, ausgehend von dem Verständnis, dass Strafen nicht härter ausfallen sollten als notwendig.» Der zweite Aspekt sei Rehabilitation und «das Prinzip, dass es langfristig besser ist, einen Häftling zu rehabilitieren als eine Fabrik für Kriminelle zu schaffen».

Hinterbliebene trauern in Utoya. 
Hinterbliebene trauern in Utoya. 
KEYSTONE

Bis vor etwa 50 Jahren hatte das norwegische Justizsystem noch auf Bestrafungen gesetzt. Erst im Zuge von Strafrechtsreformen Ende der 60er Jahre wurde der Fokus auf einen milderen Umgang mit Häftlingen und auf Rehabilitation gelegt. Nun unterscheiden sich die norwegische Strafjustiz und die Haftbedingungen stark von denen in anderen europäischen Ländern.

In Frankreich etwa können Schwerverbrecher mit lebenslanger Haft bestraft werden und dann erst nach 22 Jahren einen Antrag auf Bewährung stellen. Doch auch Breiviks vergleichsweise milde Behandlung im Gefängnis bedeutet nicht, dass er bald auf freien Fuss kommen könnte – nicht einmal 2032, wenn seine Strafe endet.

Freiheit für Breivik, damit er Reue zeigen kann?

Denn die Höchststrafe beträgt in Norwegen zwar 21 Jahre. Das entsprechende Gesetz wurde aber 2002 so geändert, dass in seltenen Fällen Haftstrafen unbegrenzt in Fünf-Jahres-Intervallen verlängert werden können, sofern der Verurteilte nach wie vor als Gefahr für die Gesellschaft gilt.

Breiviks Verteidiger Øystein Storrvik sagte in seinem Abschlussplädoyer, sein Mandant solle freigelassen werden, um zu beweisen, dass er geläutert sei und keine Gefahr mehr darstelle. Das sei nicht möglich, solange Breivik in Isolation sei. Über den Antrag auf Bewährung entscheiden drei Richter in den kommenden Wochen.

Doch das Benehmen des Attentäters bei der jüngsten Anhörung war für einige schon Beweis genug, dass Breivik nie mehr das Licht der Freiheit erblicken solle. Kristine Røyneland, die eine Gruppe von Hinterbliebenen und Überlebenden der Anschläge von 2011 leitet, bezeichnete es als verwerflich, dass Breivik bei öffentlichen Anhörungen seine extremistischen Ansichten verbreiten dürfe.

AP/phi

Von Mark Lewis, AP