Auf den Spuren des Horrors Überlebende von Butscha berichten von russischen Grausamkeiten

Von Cara Anna, AP/tpfi

10.4.2022 - 00:00

Eine Frau geht an einem zerstörten Militärfahrzeug in Butscha vorbei.
Eine Frau geht an einem zerstörten Militärfahrzeug in Butscha vorbei.
Bild: Rodrigo Abd/AP/dpa

Eine Journalistin der Nachrichtenagentur AP findet an allen Ecken des Ortes ausserhalb von Kiew Zeugnisse der dort verübten Gräueltaten. Bewohner berichten, dass die russischen Soldaten immer brutaler und erbarmungsloser wurden, je länger der Krieg dauerte.

Am Eingang eines Hauses in einem ruhigen Wohnviertel von Butscha liegt eine alte Frau in einem Pelzmantel mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Neben der Leiche bellt aufgeregt ein Hund. Im Inneren des Hauses liegt eine andere ältere Frau tot unter dem Küchentisch. Wie und warum die beiden sterben mussten, weiss in der Gegend keiner. Nachbar Serhij sagt, die Leichen lägen schon seit dem 5. März dort. Er glaubt, ein russischer Scharfschütze habe die beiden Frauen aus der Ferne erschossen.

Ihre Geschichte ist nur eine von vielen, die möglicherweise nie ganz aufgeklärt werden wird. Eine Journalistin der Nachrichtenagentur AP sprach auf dem Weg durch Butscha mit zwei Dutzend Menschen, die die russische Belagerung miterlebt haben. Viele von ihnen berichteten, dass russische Soldaten teils wahllos auf Zivilisten gefeuert hätten, dass sie mit zunehmender Dauer des Krieges immer brutaler geworden seien und jegliche militärische Disziplin fahrengelassen hätten. Die Frage, die die Bewohner umtreibt, genauso wie Ermittler, die die Verbrechen aufklären sollen, und letztlich die ganze Welt, ist die nach dem Warum.

Gräueltaten lösen Entsetzen aus

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges haben die Menschen in der Ukraine schon unsägliches Leid erlebt, in Mariupol, in Charkiw, in Tschernihiw oder in Irpin ganz in der Nähe. Aber die Bilder aus Butscha von verkohlten Leichen, Leichen mit gefesselten Händen, Leichen, die einfach auf den verwüsteten Strassen liegengelassen wurden neben Fahrrädern und plattgewalzten Autos, haben sich in die Köpfe der Menschen auf der ganzen Welt gebrannt.

«Es sieht auf jeden Fall so aus, als ob das sehr, sehr vorsätzlich geschah. Aber es ist schwer zu wissen, was die Motivation dahinter war», sagte eine Gewährsperson aus dem US-Verteidigungsapparat zu den Gräueltaten von Butscha.

«Warum bist du immer noch hier?»

Zu Beginn der einmonatigen Besatzung von Butscha hätten sich die Russen noch zurückgehalten, berichtet der 61-jährige Mykola Babak. Sie seien von Haus zu Haus gegangen, manchmal hätten sie Handys und Dokumente mitgenommen. Doch zunehmend sei die Stimmung gekippt. Am 28. März, seinem Geburtstag und wenige Tage vor ihrem Abzug, hätten die Russen seinem Schwager eine Granate unter die Achsel geklemmt und gedroht, den Ring herauszuziehen, sagt Babak. Ihm selbst hätten sie vor die Füsse geschossen. Ein Soldat wollte ihn umbringen, der andere habe aber abgewunken. Am Ende hätten sie ihn gefragt: «Warum bist du immer noch hier?»

Letztlich habe er einfach Glück gehabt, sagt Babak. In einigen Strassen von Butscha hätten die Soldaten auf jeden geschossen, der das Haus verlassen habe, in anderen sei das nicht passiert.

Gegen 18 Uhr am 31. März, Babak erinnert sich genau, sprangen die Russen in ihre Fahrzeuge und zogen ab. Gefallene Kameraden und getötete Ukrainer hätten sie auf den Strassen zurückgelassen. Ganz in der Nähe neben einem leeren Spielplatz liegen immer noch sechs verkohlte Leichen, als die Journalistin der Nachrichtenagentur AP dort mit Babak vorbeikommt. Keiner wisse, wer sie sind, sagt der 61-Jährige.

Todesschuss: «Er redete zu viel»

Im Keller eines verlassenen gelben Hauses am Ende einer Strasse liegt die Leiche eines weiteren jungen Mannes. Es war nicht sein Haus, doch irgendjemand hat ihn dort erschossen und zurückgelassen, möglicherweise vorher sogar noch dort hingebracht. Babak zeigt in einem Innenhof in der Nähe auf drei weitere tote Männer. Einem von ihnen fehlt ein Auge. An der nächsten Ecke zieht ein Hund aufgeregt seine Runden um einen Schubkarren. Darin liegt ein anderer Hund. Auch er wurde erschossen.

Die Bewohner der Stadt, die sich nun aus ihren klammen Häusern und Kellern wagen, haben ihre eigenen Theorien, warum es zu all diesen Gräueltaten kam. Möglicherweise seien in Butscha einfach besonders disziplinlose Soldaten stationiert gewesen, die zunehmend frustriert waren vom Kriegsverlauf, sagen die einen. Die anderen vermuten, dass sie in den Häusern nach Kämpfern gesucht haben, die in den vergangenen Jahren im Osten der Ukraine gegen prorussische Rebellen im Einsatz waren.

Ein ukrainischer Soldat steht in Butscha neben zerstörten russischen Panzern.
Ein ukrainischer Soldat steht in Butscha neben zerstörten russischen Panzern.
Bild: Felipe Dana/AP/dpa

Doch oft brauchte es offenbar nicht viel für einen tödlichen Schuss. Ein Mann sei am 15. März von einem russischen Soldaten nach seinen Papieren gefragt worden, sagt Augenzeugin Iryna Kolysnik. Weil er sie nicht dabei hatte, begleitete der Russe ihn nach Hause. Auf dem Weg habe er auf das Grab eines Bekannten in einem Hinterhof gezeigt und der Russe habe ihn sofort erschossen. «Er redete zu viel», sagt Kolysnik.

Leichen in Brunnen gekippt

Am Ende, berichtet der 24-jährige Roman Skytenko, hätten die russischen Soldaten jegliche Disziplin verloren und ihrer Grausamkeit freien Lauf gelassen. Sie hätten Granaten in Keller geworfen, Leichen in Brunnen gekippt. In einem Altenheim wurde die Leiche eines alten Mannes gefunden, der offenbar starb, weil sich niemand mehr um ihn gekümmert hatte. Vor der Tür lag eine erschossene Leiche, möglicherweise, die Person, die ihn betreut hatte.

Seit dem Abzug der Russen werden die Leichen eingesammelt, die auf den Strassen liegen, oder in Massengräber geworfen wurden. Am vergangenen Mittwoch berichtete Bürgermeister Anatolij Fedoruk von 320 bestätigten Todesopfern, seitdem wurden aber Dutzende weitere Leichen geborgen.

Die 57-jährige Tanya Nedashkivs'ka trauert um ihren Mann, der in Butscha am Stadtrand von Kiew getötet wurde.
Die 57-jährige Tanya Nedashkivs'ka trauert um ihren Mann, der in Butscha am Stadtrand von Kiew getötet wurde.
Bild: Rodrigo Abd/AP/dpa

Wladyslaw Mintschenko hilft dabei, die Leichen zu bergen. Der Künstler sagt, er sei selbst nur knapp dem Tod entronnen. Die Russen hätten ihm die Kleider ausgezogen und ihn an eine Wand gestellt, um ihn zu erschiessen. Aber irgendjemand habe dann gesagt: «Das ist nicht der Typ von unserer Liste».

«Ich verstehe nicht, wie die Russen das tun können»

Viele andere Bewohner von Butscha berichten von ähnlichen Erlebnissen mit den russischen Soldaten. Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen wollte, sagte, die russischen Soldaten hätten sie auf dem Weg in einen Keller, in dem sie mit 100 anderen ausharrte, aufgehalten und drei Tage lang nicht mehr gehen lassen. Neben ihr auf dem Boden hätten Leichen mit verbundenen Händen gelegen, erinnert sie sich an den Tag Anfang März. «Ich dachte, sie würden uns auf der Stelle erschiessen.»

Ein ukrainischer Soldat geht in Butscha mit Kindern an zerstörten Autos vorbei.
Ein ukrainischer Soldat geht in Butscha mit Kindern an zerstörten Autos vorbei.
Bild: Rodrigo Abd/AP/dpa

Ein paar Häuser weiter steht die 80-jährige Galyna Tscheredynatschenko auf zwei Stöcke gestützt auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus. Als die Russen gekommen seien, hätten sie ihren Panzer einfach in ihrem Vorgarten geparkt, beinahe auf dem Blumenbeet, sagt die alte Frau. Und die Russen blieben. Sie hätten in ihrem Haus geschlafen, im Innenhof gekocht, mit ihrem Kessel Tee gemacht, während sie selbst ihr Schlafzimmer nicht verlassen habe dürfen. «Sie waren nicht schlimm, sie wollten mich einfach nicht rauslassen», sagt Tscheredynatschenko. Von den Gräueltaten in der Stadt bekommt sie erst jetzt langsam etwas mit. «Ich wurde im Zweiten Weltkrieg geboren. Wenn Sie mir sagen, die Nazis hätten das gemacht, dann verstehe ich das. Aber ich verstehe nicht, wie die Russen das tun können.»

«Warum hier?»

Die 63-jährige Natalija Alexandrowa berichtet ebenfalls, dass sich die russischen Soldaten zu Beginn der Besatzung noch zurückgehalten hätten. «Sie sagten, sie seien für drei Tage gekommen. Aber der Krieg ging weiter und sie fingen an zu plündern. Kleidung, Schuhe, Alkohol, Gold, Geld. Sie schossen grundlos auf Fernseher.»

Eine Frau umarmt einen ukrainischen Soldaten, nachdem ein Konvoi von Militär- und Hilfsfahrzeugen in dem ehemals russisch besetzten Kiewer Vorort Butscha eingetroffen ist.
Eine Frau umarmt einen ukrainischen Soldaten, nachdem ein Konvoi von Militär- und Hilfsfahrzeugen in dem ehemals russisch besetzten Kiewer Vorort Butscha eingetroffen ist.
Bild: Vadim Ghirda/AP/dpa

Die Soldaten hätten immer nach Spionen Ausschau gehalten, berichtet Alexandrowa. Ihre Neffe sei abgeführt worden, als er mit seinem Handy zerstörte Panzer gefilmt habe. Vier Tage später sei er tot in einem Keller gefunden worden, mit einer Schusswunde am Ohr.

Die 63-jährige Valentyna Nekrutenko, die um die Ecke von den zwei erschossenen älteren Frauen wohnt, hat sich seit der Ankunft der Russen mit ihrem schwerkranken Mann zu Hause verschanzt. Vom Tod der beiden Nachbarinnen hört sie zum ersten Mal. So wie alle hier in Butscha kann sie nicht verstehen, warum das Grauen gerade zu ihnen kam. «Warum hier?», sagt sie. «Es gibt nichts Besonderes an Butscha.»

Von Cara Anna, AP/tpfi