Kampf dem Overtourism Wie Island die Touristenmassen bändigen will

dpa/gbi

12.10.2019

Viele Naturliebhaber preisen Island als den schönsten Flecken Erde. Die Zahl der Touristen ist auf der Insel regelrecht explodiert – droht nun der Kollaps? Dagegen haben die Isländer einen Plan.

Popstar Justin Bieber war hier, davor auch Hollywoodstar Angelina Jolie, und für einen James-Bond-Film wurde in Island ebenfalls schon gedreht. Nun inspiziert das chinesische Paar Zhongda He und Nannan Li die Gletscherlagune Jökulsárlón. Die zwei kommen aus Peking und Shanghai. Sie schippern mit einem Amphibienfahrzeug durch das eiskalte Wasser.

Mit anderen Touristen treiben sie an meterhohen Eisbergen vorbei, die vor ein paar Tagen von dem riesigen Gletscher am Horizont, dem Vatnajökull, abgebrochen sind. Li starrt gebannt durchs Fernglas auf die Eismonster. Er ist erstmal sprachlos. Dann sagt er leise: «Das ist grossartig.»

Wie dem chinesischen Paar geht es vielen Island-Touristen. Die Vorfreude auf Geysire, Wasserfälle und Gletscher hat sie in den hohen Norden gezogen. Island verspricht Naturspektakel pur. 

Vulkanausbruch mit Werbeeffekt

Islands Popularität bei Reisenden ist in den vergangenen Jahren durch die Decke gegangen. Dabei spielte ein Ereignis eine Rolle, das anfangs eher negative Gefühle auslöste: der dramatische Ausbruch des Vulkans am Gletscher Eyjafjallajökull 2010 und dessen gigantischen Aschewolken. Er legte über Wochen den internationalen Flugverkehr lahm und machte die Insel weit über die Grenzen Skandinaviens hinaus bekannt.


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Seither ist die Zahl der Touristen regelrecht explodiert: 2010 waren knapp 489'000 Besucher nach Island gereist. 2018 kamen schon 2,34 Millionen – das entspricht fast einer Verfünffachung in nur acht Jahren.

2,34 Millionen Touristen, das bedeutet: mehr als das Sechsfache der Bevölkerung Islands. Auf der Insel leben rund 350'000 Menschen – also weniger als in der Stadt Zürich, die 431'000 Einwohner zählt.

Irgendwann wurden es zu viele Touristen

Was macht solch ein Ansturm mit dem kleinen Wikinger-Völkchen? Gudny Valberg hat den Boom zunächst einmal für sich genutzt. Ein Foto ihrer Farm, die sie mit ihrem Mann Ólafur Eggertsson betreibt, prangte einst auf den Titelseiten internationaler Zeitungen, als der Eyjafjallajökull direkt hinter dem Hof Asche spuckte.

«Als das hier passiert ist, war das die vielleicht grösste Werbung für Island», erinnert sich Valberg. Die Reisenden kamen. Die Familie eröffnete ein Besucherzentrum am Fusse des Gletschers.

Irgendwann ist es zu viel geworden. Das Paar machte das Zentrum Anfang 2018 dicht. Mehrere der Kinder, die geholfen hatten, waren weggezogen. Die Eltern alleine konnten die Informationsgier der Touristen – neben ihrer Arbeit auf dem Bauernhof – nicht mehr stillen.

Plötzlich in aller Munde

Ein Vulkanausbruch als Touristenmagnet: In der Hauptstadt Reykjavik, rund 140 Kilometer nordwestlich vom Eyjafjallajökull, sieht es die Direktorin der Tourismusbehörde Visit Iceland, Inga Hlín Pálsdóttir, ähnlich: «Plötzlich haben die Leute realisiert, dass da eine Insel mitten im Atlantik ist», sagt sie. Davor hätten die meisten nicht einmal gewusst, wo Island auf der Weltkarte genau zu verorten sei.


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Nun merken sie, dass eine Reise dorthin gar nicht so lange dauert – von Zürich aus benötigt der Flieger weniger als vier Stunden. Hinzu kommt, dass das Auftreten der fröhlichen Isländer bei der Fussball-EM 2016 und der Weltmeisterschaft 2018 dem Land weitere Popularität verlieh.

Auf den Spuren von Angelina Jolie

Und noch etwas lockt die Touristen: Filme, Serien und Musikvideos. Schauspieler Ben Stiller spazierte in «Das erstaunliche Leben des Walter Mitty» durch Stykkishólmur und andere isländische Orte. Szenen von «Game of Thrones» wurden auf Island gedreht, genauso wie Teile von «James Bond – Stirb an einem anderen Tag» und «Star Wars: Rogue One». Kurzum: Island ist fotogen – auch für Hollywood.

Damit stellt sich die Frage, ob die Popularität mit Island machen wird, was sich etwa auf dem Markusplatz in Venedig, der Ramblas-Flaniermeile in Barcelona und dem Nyhavn in Kopenhagen beobachten lässt: Die Touristen kommen in Scharen – und manche Einheimische fühlen sich an den Rand gedrängt. Solche Gefühle kennen auch Menschen in Berlin und München.



Manche Isländer sind in den Sommermonaten jedenfalls genervt. In einem Café in Reykjavik sagt einer, der Tourismus habe das Land nach der Finanzkrise 2008 zwar vor der Rezession gerettet. Nun brauche man das Geld der Touristen aber nicht mehr. Es sei genug Geld da.

Gerade am unüberlegten Handeln vieler Reisender auf den Strassen und in der Natur stösst man sich: Manche fahren sich im Flussbett fest, andere gehen für das perfekte Selfie über Absperrungen bedrohlich dicht an Klippen oder Geysire heran. 

Dicht gedrängte Outdoor-Jacken

Morgens um halb zehn ist der Parkplatz vom Reynisfjara, dem schwarzen und im «Star Wars»-Film «Rogue One» zu sehenden Strand bei Vik, bereits bis auf den letzten Platz gefüllt. Leute in bunten Outdoor-Jacken tummeln sich vor einer Gesteinsformation auf dem Sand, der tatsächlich pechschwarz ist. Eine junge Japanerin kriegt beim Fotografieren des Meeres gerade noch die Kurve, um sich rechtzeitig vor einer hohen Welle in Sicherheit zu bringen. Ein Chinese war hier 2018 vom Wasser ins Meer gezogen worden und gestorben.

Touristen wagen sich am Jokulsarlon-See ins eiskalte Nass. 
Touristen wagen sich am Jokulsarlon-See ins eiskalte Nass. 
Bild: Keystone

Am Wasserfall Skogafoss ist der Parkplatz an diesem Vormittag ebenfalls randvoll. Das gleiche Bild wiederholt sich an den weiteren Naturspektakeln: gelbe, rote, blaue Outdoor-Jacken am spektakulären Wasserfall Gullfoss, gelbe, rote, blaue Outdoor-Jacken am Grossen Geysir, der allen weiteren Wasserfontänen dieser Art auf der Welt seinen Namen gegeben hat. 

Eine junge Polin betrachtet das Treiben. Sie ist auf einem Tagesausflug auf dem Golden Circle, dem Goldenen Ring, zu dem auch Geysir und Gullfoss gehören. «Tja, was soll man machen?», sagt die 21-Jährige zu den Menschenmengen. «Man kann solche Sachen in Island einfach nur mit all den anderen gemeinsam geniessen.» Sie überlegt kurz, dann ergänzt sie: «Und vielleicht irgendetwas on top finden, wo weniger los ist.»


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In der Tat klumpt es sich vor allem im Süden. Die Ringstrasse, die das Land umrundet, hat in diesem Gebiet Spuren davongetragen. An vielen Stellen wird der Asphalt nachgebessert. Und die Isländer erleben, was sie bis dato kaum kannten: «umferdarhnútur», also Stau. 

Nebensaison stärken – und Nebenschauplätze

Um dieser Ballung entgegenzuwirken, will Island seinen Tourismus in eine nachhaltige, stabile Zukunft führen: Bisher eher vernachlässigte Regionen sollen beworben und die Nebensaison ausserhalb der relativ warmen Sommermonate Juni bis August attraktiver gemacht werden.

Während im Juli maximal rund 90'000 Touristen nach Island gekommen sind, waren es im Winter bislang nur 30'000, wie Inga Hlín Pálsdóttir, die Visit-Iceland-Direktorin, vorrechnet. Dabei habe sich das Verhältnis zwischen Haupt- und Nebensaison schon deutlich verbessert. Das grösste Wachstum sei in der Nebensaison verzeichnet worden.

Ein Fokus werde nun darauf gelegt, andere Regionen zu fördern, denn der Grossteil der Island-Gäste reise eben vor allem nach Reykjavik, in den Süden und auf den Goldenen Ring – «unseren Eiffelturm», wie Pálsdóttir sagt. Entscheidend sei, ein nachhaltiges Reiseziel zu sein. «Wir fokussieren uns deshalb auch darauf, dass alles, was wir tun, etwas ist, mit dem die Isländer zufrieden sind.»

Besonders wichtig ist den Einheimischen auch ein Schutzfonds für touristisch genutzte Sehenswürdigkeiten. Daraus können Gelder beantragt werden, um Wege, Toiletten und andere Infrastruktur entstehen zu lassen. Ziel sei der Schutz der Natur, sagt Pálsdóttir. Die Regierung prüft zudem die Einflüsse des Tourismus auf Wirtschaft, Infrastruktur und Soziales, um rechtzeitig zu erkennen, ob es irgendwo hakt. «Die ersten Ergebnisse zeigen, dass wir das Limit noch nicht erreicht haben», sagt Pálsdóttir.

Reykjavik setzt auf Regulierung

Reykjavik mit dem nahen internationalen Flughafen Keflavik bleibt dabei das zentrale Tor auf die Insel. Nahezu alle Reisenden – bis zu 96 Prozent – besuchen während ihrer Ferien die Hauptstadt. «Das ist sowohl eine gute als auch eine schlechte Sache», sagt die Leiterin des lokalen Touristenamtes Visit Reykjavik, Karen María Jónsdóttir.

Als sie beschreibt, was der Boom mit ihrer Stadt gemacht hat, schweift sie in ihre Kindheit ab. «Ich erinnere mich daran, wie ich einst zur Schule gegangen bin und niemand auf den Strassen in Reykjaviks Zentrum unterwegs war», sagt sie. Mittlerweile ist nicht nur der Laugavegur, die zentrale Einkaufsstrasse, prall gefüllt, sondern auch andere Viertel der Stadt.


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Reykjaviks Zauberwort heisst Regulierung: Grosse Busse wurden auf Wunsch der Anwohner aus dem Stadtkern verbannt. Es wurden viele dringend benötigte Hotels gebaut, wer Airbnb-Zimmer vermietet, darf das an maximal 90 Tagen im Jahr tun. Es wurde darauf geachtet, dass in manchen Strassen nicht zu viele Restaurants und Kneipen entstanden und sich die Anwohner gestört fühlen. Museen, Kunstgalerien und Bars liegen nicht nur im Zentrum, sondern auch in anderen Gebieten wie dem Alten Hafen.

Heute sei die überwiegende Mehrheit in der Stadt der Ansicht, dass die Touristen die Lebensqualität verbesserten, sagt Jónsdóttir. «Die Leute sind zufrieden mit der Anzahl und Vielfalt der Angebote.»

Im Jahr 2019 erlebt Island mittlerweile etwas, was es in diesem Jahrzehnt noch nie gegeben hatte: sinkende Zahlen. Gründe dafür sind, so sagt Pálsdóttir, unter anderem die Pleite der Billigfluglinie Wow Air und die Probleme des Pannenfliegers Boeing 737 Max. «Wir machen uns zurzeit aber keine Sorgen», versichert Pálsdóttir.

Eine Frage der Perspektive

Von einer Überfüllung wie in Venedig, sagt die Touristikerin, sei Island noch weit entfernt. Und in Sachen Gedränge kommt es ohnehin auf die Perspektive an: Die Chinesen He und Li geniessen die aus ihrer Sicht immer noch geringe Menschendichte auf Island. «Das hier ist so anders als China. Wir sind so sehr an städtische Gebiete mit grossen Bevölkerungszahlen gewöhnt. Hier ist es wild und leer. Das ist das Paradies für uns», sagt Nannan Li.

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