Nachruf Othella Dallas stirbt mit 95 – «Im Himmel kann ich nicht tanzen»

Von Bruno Bötschi

1.12.2020

Die Grand Old Lady des Jazz ist nicht mehr: Tänzerin und Sängerin Othella Dallas, die seit 1960 in der Region Basel wohnte, ist im Alter von 95 Jahren gestorben.
Die Grand Old Lady des Jazz ist nicht mehr: Tänzerin und Sängerin Othella Dallas, die seit 1960 in der Region Basel wohnte, ist im Alter von 95 Jahren gestorben.
Bild: Keystone

Othella Dallas stand auf den Bühnen von Harlem, Las Vegas und Paris, aber der Liebe wegen zog sie 1960 nach Basel. Nun ist die Sängerin und Tänzerin mit 95 gestorben. Ein Interview als Nachruf.

Als ich Othella Dallas vor zehn Jahren am «Festival da Jazz» in St. Moritz zum ersten Mal live auf der Bühne sah, hatte ich während ihres Auftrittes Tränen in den Augen. So berührt war ich.

Geboren wird Dallas 1925 in Memphis, Tennessee, als Othella Strozier. Als sie 19 Jahre alt ist, wird sie von der Choreografin Katherine Dunham entdeckt. Als Solotänzerin der Dunham Company tourt Strozier bis nach Südamerika und Europa.

1949 heiratet sie den Schweizer Ingenieur Peter Wydler, 1952 folgt ihr erster Auftritt als Sängerin in Paris. Schon bald steht Dallas mit den Grossen des Jazz auf der Bühne: Duke Ellington, Quincy Jones und Nat King Cole.

1960 lässt sich Dallas in der Schweiz nieder, sie widmet sich ihrer Familie und eröffnet 1975 in Basel eine Tanzschule. 2008 startet sie ihre dritte Karriere mit der CD «I Live The Life I Love». 

Ich traf Othella Dallas mehrmals zu Interviews – und mit 90 hat sie ein Southern Fried Chicken bei ihr zu Hause für mich gekocht. Bei jedem Treffen war ich von Neuem angetan von ihrer schier unendlichen Energie. Es schien, als lasse sie sich von nichts und niemand unterkriegen.

Das folgende Interview mit Othella Dallas führte ich 2013 für die Wochenzeitung «Zeit».


Frau Dallas, Sie werden im September 88 Jahre alt. Wie hat sich Ihr Körper heute beim Aufstehen gefühlt?

Sie meinen, ob ich mein Alter spüre? Das tue ich nicht. Ich habe Probleme, weil ich eigentlich etwas von meinem hohen Alter spüren sollte.

Warum sollten Sie deshalb Schwierigkeiten haben?

Weil man mit 87 wirklich das Alter spüren sollte.

Sind Sie nie müde?

Nein. Ich hasse das Wort.

Andere Menschen in Ihrem Alter sitzen im Heim und warten auf die letzte Stunde. Sie hingegen unterrichten regelmässig in Ihrer Tanzschule in Basel.

Tanzen und Singen ist alles, was ich immer wollte. Tut man, was man will, macht das glücklich — und alt.

Ist das Leben wirklich so einfach?

Heute Mittag kam eine Frau in die Tanzstunde. Sie war nicht gut drauf, hatte irgendein Problem im Büro. Irgendwann sagte ich zu ihr, sie solle aufhören, mit dem Kopf zu tanzen, solle mehr auf den Bauch hören. Und dann ist es geschehen: Die Frau ist plötzlich aus sich herausgekommen, tanzte weniger perfekt, dafür mit Gefühl.

Das Leben ist keine Tanzstunde.

Aber derart schnelle Veränderungen im Menschen, davorf bin ich überzeugt, schafft nur das Tanzen.

Wie fühlen Sie sich nach einer Tanzstunde?

Wie getauft. Wie neu geboren.

Haben Sie nie Schmerzen?

Doch, in den Beinen manchmal.

Hassen Sie das?

Nein, ich liebe Schmerzen. Wenn ich Schmerzen habe, weiss ich, ich habe gut trainiert.

Othella Dallas mit 88 während eines Auftrittes im Theater Rigiblick in Zürich.
Othella Dallas mit 88 während eines Auftrittes im Theater Rigiblick in Zürich.
Bild: Keystone

Sind die Schweizerinnen und Schweizer gute Tänzer?

Sie sind perfekt.

Wirklich?

Ja, die Schweizer sind zu perfekt. Wenn du tanzt, musst du deine Seele, dein Herz, deinen Bauch spüren. Es nützt nichts, wenn du die Schritte perfekt kannst, aber du nicht in dich gehst, kein Gefühl für deinen Körper entwickelst.

Wir Schweizer haben zu wenig Gefühl?

Moment, wenn ich jetzt mit Ja antworte, bringt mich das in Schwierigkeiten. Sagen wir es so: Es ist mit den Jahren besser geworden, weil die Menschen mehr reisen, dadurch andere Kulturen kennenlernen und sich öffnen konnten.

Sie tanzten in den 1940er-Jahren im Ensemble von Katherine Dunham, einer der Pionierinnen des Black Dance. Sie waren auf der ganzen Welt unterwegs — von Las Vegas bis Paris. Kaum aber lernten Sie den Schweizer Ingenieur Peter Wydler kennen, verliessen Sie die Dunham-Iruppe. War die Liebe stärker als Ihre Leidenschaft?

Ich hörte zwar bei Dunham auf; aber nicht mit dem Tanz. Ich wurde stattdessen Lehrerin und eröffnete in Zürich eine Tanzschule. Alle kamen zu mir.

Alle?

Margrit Rainer, Margrit Läubli, Ruedi Walter ...

Wie talentiert waren die drei Volksschauspieler?

Sie waren zu spät. Sie waren sehr interessiert, aber sie haben zu spät mit Tanzen angefangen. Margrit Läubli war die Begabteste.

Wie kamen Sie selber zum Tanz?

Ich war fünf Jahre alt, als mich meine Mutter auf den Tisch stellte und sagte, ich solle Stepp tanzen. Tanz und Musik waren das Einzige, was wir Schwarzen in Memphis, diesem Höllenloch, hatten.

Sie wurden 1925 in Tennessee geboren. In den Südstaaten der USA herrschte damals Rassentrennung.

Wenn wir mit weissen Musikern in Clubs auftraten, mussten wir immer den Hintereingang benutzen.

Wehrten Sie sich gegen diese Demütigungen?

Es war demütigend. Aber das Tanzen hat es irgendwie erträglich gemacht. Tanzen war eine Art Befreiung.

Gekämpft hat Ihre Tanzgruppe aber nie gegen diese Ungerechtigkeit?

Doch, einmal. Wir hatten einen Auftritt in Las Vegas. Statt mit dem Lift hätten wir über das Treppenhaus in den Club in einem Hochhaus gelangen sollen. Doch Katherine Dunham weigerte sich. Sie sagte zum Clubbesitzer: «Dann treten wir heute nicht auf.»

Was geschah dann?

Johnny Weissmüller, der erste Tarzan-Darsteller, hatte die Auseinandersetzung beobachtet. Er ging zur Lifttüre, drückte den Knopf und sagte, als die Türe aufging: «Kommt rein, ihr fahrt mit mir hoch.»

Nachdem Sie 1949 Peter Wydler, Ihren späteren Mann, in Paris kennenlernten ...

... unsere Geschichte begann bereits zwei Jahre vorher.

Wie?

Als Kind hatte ich vom Tanzen und von den Schweizer Bergen geträumt.

Woher kannten Sie die?

Ich las in einer Zeitschrift darüber. Ich wollte unbedingt Schnee berühren und einen Schweizer heiraten. So war ich überglücklich, als mir 1947 ein Brieffreund namens Peter Wydler aus Zürich vermittelt wurde.

Wem verdankten Sie seine Adresse?

Der Freundin von Arvell Shaw. Er war der Bassist von Louis Armstrong. Die Frau kam aus Vevey und wusste von meinem Faible für ihr Heimatland.

Sie waren in Ihrem Leben ständig unterwegs. Einen Anker gibt es jedoch: Ihre Wohnung in Binningen bei Basel, wo Sie seit 1960 wohnen.

I hung my hat in Binningen. Ich erlebte dort die fröhlichsten Tage meines Lebens. Ich habe so viele wunderbare Erinnerungen an meine Wohnung. Mein Mann Peter war leidenschaftlicher Jazzfan. Alle grossen Musiker besuchten uns hier. Für Saxofonist Dexter Gordon kochte ich genauso mein Southern Fried Chicken wie für Dizzy Gillespie, George Gruntz und Quincy Jones.

Othella Dallas war auf Du und Du mit den ganz Grossen: Edith Piaf, Nat King Cole, Quincy Jones oder Duke Ellington.
Othella Dallas war auf Du und Du mit den ganz Grossen: Edith Piaf, Nat King Cole, Quincy Jones oder Duke Ellington.
Bild: Keystone

Spielte Ihr Mann auch ein Instrument?

Nein. Aber er hat mein Talent als Sängerin entdeckt, während ich unseren Sohn Peter stillte.

Wie bitte?

Als ich Peter in den Schlaf wiegte, sang ich ihm immer wieder «Rock-a-bye Baby» vor, ein etwas rockiges Wiegenlied. Peter fand, ich hätte eine tolle Stimme. Er fing an, für mich Lieder zu suchen.

Und so kam es, dass Sie in den Pariser Clubs, in denen Sie in den 1940ern als Tänzerin aufgetreten waren, Erfolge als Sängerin feierten?

Mein erstes Konzert gab ich 1952 im Club Carrolls in Paris. Sidney Bechet, damals einer der besten Klarinettisten der Welt, stand mit mir zusammen auf der Bühne. Und im Publikum sass Orson Welles. Es war eine verrückte Zeit. Später absolvierte ich pro Abend vier bis fünf Vorstellungen in unterschiedlichen Pariser Clubs. Mein Mann wartete nach den Auftritten im Taxi auf mich. Während der Fahrt zum nächsten Club wechselte ich im Fonds mein Kleid.

Wieso das?

Weil das Publikum oft den Club mitwechselte. Ich war Tänzerin, ich schaffte das problemlos.

Und am Tag schliefen Sie?

Nein. Ich hatte damals auch noch eine Tanzschule in Paris und in Zürich. Ich hatte immer, wo ich gerade lebte, eine Tanzschule.

Woher nahmen Sie die Energie?

Ich konnte tun, was ich wollte. Dieser Zustand gab mir unendlich viel Energie.

Worin unterscheiden sich Tanzen und Singen?

Das habe ich mir noch nie überlegt. Ich brauche für beides die gleiche Energie. Ich weiss nicht, wie es anderen Künstlern geht, aber für mich gibt es keinen Unterschied, ob ich als Tänzerin oder als Sängerin auf der Bühne stehe. Ich gehe in mich hinein, wenn ich singe.

Und beim Tanzen?

Ist es das Gleiche, ausser dass ich mich mehr bewege, mehr mit dem Körper arbeite.

Othello Dallas: «Ich weiss nicht, wie es anderen Künstlern geht, aber für mich gibt es keinen Unterschied, ob ich als Tänzerin oder als Sängerin auf der Bühne stehe.»
Othello Dallas: «Ich weiss nicht, wie es anderen Künstlern geht, aber für mich gibt es keinen Unterschied, ob ich als Tänzerin oder als Sängerin auf der Bühne stehe.»
Bild: Keystone

Was bedeutet Ihnen die Bühne?

Sie ist für mich wie das Atmen. Ohne Bühne, ohne Publikum, kann ich nicht leben.

Konnten Sie doch: Nach dem Tod Ihres Mannes 1982 traten Sie drei Jahre lang nicht mehr auf.

Es tut immer noch weh, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Ich frage mich bis heute, warum Papi so früh sterben musste, mit 62. Es war unfair von Gott. Aber Er wird seine Gründe gehabt haben.

Was brachte Sie auf die Bühne zurück?

Die Musik. Eines Tages sagte ich mir: Es ist schrecklich, dass mein Mann nicht mehr da ist. Aber er hätte nie gewollt, dass ich keine Musik mehr mache. Er liebte Jazz über alles und wollte immer, dass ich singe. Nein, er wäre sicher traurig gewesen, wenn ich meine Talente für den Rest meines Lebens ignoriert hätte. Tanz und Musik sind wie Beten.

Beten Sie zu Gott?

Früher habe ich vor einem Auftritt immer mit den Musikern gebetet. Heute tue ich das nicht mehr. Nach einem guten Konzerte sage ich aber «Danke, lieber Gott».

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Ja.

Warum?

Im Himmel kann ich nicht mehr tanzen.


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