Bötschi fragt Jessica Sigerist: «Sexualität ist mehr als Vorspiel, Penetration, fertig»

Von Bruno Bötschi

28.2.2020

Jessica Sigerist (zusammen mit Geschäftspartner Tobias Zimmermann) über den weiblichen Körper: «Der weibliche Körper steht viel stärker in der Öffentlichkeit, wird viel heftiger kritisiert. Für Frauen ist die Schönheit eminent wichtig, Männer haben mehr Möglichkeiten, Attraktivität herzustellen – etwa durch reich und intelligent sein.»
Jessica Sigerist (zusammen mit Geschäftspartner Tobias Zimmermann) über den weiblichen Körper: «Der weibliche Körper steht viel stärker in der Öffentlichkeit, wird viel heftiger kritisiert. Für Frauen ist die Schönheit eminent wichtig, Männer haben mehr Möglichkeiten, Attraktivität herzustellen – etwa durch reich und intelligent sein.»
Bild: zVg

Sie ist die Betreiberin des ersten sexpositiven, queer-feministischen Sexshops der Schweiz. Ein Gespräch mit Jessica Sigerist über die Emanzipation, offene Beziehungen – und wann Sextoys helfen können.

Frau Sigerist, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle Ihnen in den nächsten 45 Minuten möglichst viele Fragen – und Sie antworten möglichst schnell und spontan. Passt Ihnen eine Frage nicht, sagen Sie einfach ‹weiter›.

Gut.

Ihr Lieblingsbuch über Sex?

Ein wichtiges Buch für mich in Sachen Sex und Beziehung ist das Sachbuch ‹The Ethical Slut› von Dossie Easton und Janet W. Hardy. Und ich mag die erotische Literatur von Anaïs Nin, etwa ihr Buch ‹Delta of Venus›.

Ihr Lieblingsfilm über Sex?

Mein Gott … sorry, da kommt mir gerade keiner in den Sinn.

Der Name einer Schweizer Feministin, der Ihnen sofort einfällt?

Franziska Schutzbach. Sie ist aktuell eine der stärksten Stimmen in der Schweiz zum Thema ‹Feminismus›.

In der ‹Woz› erzählten Sie, Ihnen falle es leichter, als anderen Menschen über Sex zu reden. Warum ist dem so?

Ich komme einerseits aus einem Elternhaus, das mit dem Thema ‹Sexualität› schon sehr früh sehr liberal umging, und andererseits hat es mich überhaupt schon mein ganzes Leben interessiert. Dass ich darüber gern rede, ist auch eine Frage der Übung, wie so vieles im Leben. Ich finde es zudem wichtig, dass man den Menschen, mit denen man Sex hat, immer wieder sagt, was man gern hat und was nicht.

Wirklich wahr, dass Sie bereits als Vierjährige mit Ihren Eltern über Sex gesprochen haben?

Das stimmt. Meine Eltern haben mich früh aufgeklärt – es wurde zum Beispiel auch über Masturbation gesprochen, und dass dies etwas Gutes ist, ganz entgegen der Meinung von gewissen Kirchenvertretern. In unserer Familie wurde auch darüber gesprochen, dass es homo- und bisexuelle Menschen gibt. Dafür bin ich meinen Eltern dankbar. Das Wissen über all diese Dinge ist ein erster Schritt zu einer selbstbestimmten Sexualität. Ich finde es auch mega wichtig, dass das Thema ‹Sexualität› in der Schule prominent behandelt wird. Und nicht so, wie das noch während meiner Schulzeit getan wurde.

Erzählen Sie bitte davon.

Als ich noch in die Schule ging, wurde während des Aufklärungsunterrichts vor allem darüber informiert, wie man nicht schwanger wird und wie man sich gegen Geschlechtskrankheiten schützen kann. Es wurde uns also erklärt, was alles Schlimmes passieren kann, wenn man Sex hat. Ich finde jedoch, im Aufklärungsunterricht sollte auch über die Lust und Freude gesprochen werden und über die verschiedenen sexuellen Orientierungen.

Zusammen mit Ihrem Geschäftspartner Tobias Zimmermann betreiben Sie seit Dezember den Online-Sexshop. Untamed.love sei der erste sexpositive, queer-feministische Sexshop hierzulande, heisst es auf Ihrer Internetseite.

Tobias und ich fanden schon länger, es wäre an der Zeit eine andere Art Sexshop in der Schweiz zu lancieren. Als wir dann letztes Jahr beide auf der Suche nach einer neuen Herausforderung waren, entschieden wir uns kurzerhand, das Projekt selber anzugehen. Wir möchten mit unserem Shop Werte vertreten, die wir auch selber leben.

Geht es etwas konkreter?

Bei den bestehenden Sexshops gibt es zwei Kategorien: einerseits die alteingesessenen, etwas verstaubten, andererseits die modernen, die einen total cleanen Look haben. Ihre Werbung richtet sich fast ausschliesslich an heterosexuelle Menschen. Wir kommen stattdessen aus der sexpositiven Szene und haben deshalb auch viele Kundinnen und Kunden, die alternative Lebensformen leben.

Jessica Sigerist über den Aufklärungsunterricht in der Schule: «Es wurde uns erklärt, was alles Schlimmes passieren kann, wenn man Sex hat. Ich finde jedoch, im Aufklärungsunterricht sollte auch über die Lust und Freude gesprochen werden und über die verschiedenen sexuellen Orientierungen.» (Symbolbild)
Jessica Sigerist über den Aufklärungsunterricht in der Schule: «Es wurde uns erklärt, was alles Schlimmes passieren kann, wenn man Sex hat. Ich finde jedoch, im Aufklärungsunterricht sollte auch über die Lust und Freude gesprochen werden und über die verschiedenen sexuellen Orientierungen.» (Symbolbild)
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Was heisst sexpositiv?

Sexpositiv heisst, das jeder Mensch seine Sexualität ausleben soll, wie sie oder er das möchte. Sexpositiv heisst, dass alle erwachsenen Menschen in ihrem eigenen Ausdruck von Sexualität respektiert werden, unabhängig davon, wie, mit wem oder wie oft sie Sexualität leben. Es gibt also zum Beispiel keine Wertung zwischen hetero- und homosexuellem Sex. Sexpositiv heisst, dass es kein richtig oder falsch gibt. Sexpositiv heisst auch, dass andere Menschen nicht be- oder verurteilt werden wegen ihrer sexuellen Wünsche, Praktiken und ihrer sexuellen Ausrichtung. Sexpositiv heisst aber nicht, dass Sex das Grösste ist und dass alle möglichst viel Sex haben müssen.

Jetzt bitte noch den Begriff ‹queer-feministisch› kurz und knackig erklären.

Was ‹feministisch› bedeutet, denke ich, sollte klar sein. Dieser Begriff steht für die Gleichberechtigung zwischen allen Geschlechtern. Der Begriff ‹queer› ist ein Sammelbegriff für sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten. War der Begriff früher öfters negativ belegt, gilt er heute als Sammelbegriff für sämtliche sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, die nicht der Hetero- und Cisnormativität entsprechen: wie lesbisch, schwul, bisexuell, trans, intersexuellgeschlechtlich und asexuell.

Über den Autor
Bild: Bluewin

«Bluewin»-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten. Bötschi hat viel Erfahrung mit Interviews. Für die Zeitschrift «Schweizer Familie» betreute er jahrelang die Serie «Traumfänger». Über 200 Persönlichkeiten stellte er dafür die Frage: Als Kind hat man viele Träume – erinnern Sie sich? Das Buch zur Serie «Traumfänger» ist im Applaus Verlag, Zürich, erschienen. Es ist im Buchhandel erhältlich.

Wollen Sie die neue Beate Uhse werden?

Wieso auch nicht? Beate Uhse hat eine interessante Lebensgeschichte. Heute wird ihr Name zwar vor allem mit dem Schmuddelsex-Image in Verbindung gebracht. Dabei arbeitete Uhse schon früh auch im feministischen und aufklärerischen Bereich. Es würde mich deshalb nicht stören, die neue Beate Uhse zu sein.

Wie unterscheidet sich Ihr Online-Sexhop von anderen ähnlichen Angeboten?

Bei uns sollen wirklich alle Menschen einkaufen können. Im Gegensatz zu vielen anderen Shops wollen wir inklusiv sein.

Das müssen Sie erklären.

Andere Shops machen fast ausschliesslich Werbung mit Frauen in sexy Posen oder mit jungen Pärchen mit weisser Hautfarbe. Damit habe ich ein Problem.

Welches?

Diese Bildsprache macht eine Aussage darüber, welche Art von Sex ‹richtig› sein soll – nämlich die in einer monogamen, heterosexuellen Paarbeziehung, also der Sex zwischen jungen, weissen, schönen, nicht behinderten Menschen. Aber alle anderen Menschen haben doch auch Sex. Wir dagegen möchten Menschen mit ganz unterschiedlichen Geschlechteridentitäten ansprechen.



Was stört Sie an normalen Sexshops sonst noch?

Unser Angebot ist kleiner, man könnte schon fast sagen: handverlesen. Andere Shops haben ein riesiges Angebot, welches einem Laien es verunmöglicht, sich einen Überblick über die Qualität der angebotenen Ware zu machen. Unsere Produkte sind zudem alle body-safe. Es gibt künstliche Weichmacher, die in Kinderspielzeug verboten sind, aber für Dildos und Butt Plugs sind sie immer noch erlaubt, da das entsprechende Gesetz fehlt. Aber ich denke, wenn diese Substanz ein Kind nicht in den Mund nehmen sollte, dann sollten wir Erwachsenen das auch nicht in unsere Körperöffnungen stecken.

Hollywood-Schauspielerin Gwyneth Paltrow mischt gerade das Internet auf mit einer Kerze namens ‹This Smells Like My Vagina›. Die Kerze war in der letzten Woche Gesprächsthema in vielen Medien, und in Paltrows ‹Goop›-Shop soll sie innerhalb kürzester Zeit ausverkauft gewesen sein. Ihre Meinung dazu?

Natürlich habe ich diese Geschichte mitbekommen. Aber ehrlich gesagt, dieses Produkt interessiert mich nicht besonders. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kerze nach einer Vagina riechen soll. Für mich ist Frau Paltrow einfach ein weiterer Star, der mit irgendeinem Produkt möglichst viel Geld verdienen möchte.

Die Vulva ist gerade ein aller Munde – auch Soulsängerin Erykah Badu plant die Lancierung eines Vagina-Räucherstäbchen mit dem Namen ‹Badu's Pussy›.

Aha, davon habe ich noch nichts gehört. Ich habe mich mit dem Duft-Thema bisher noch nicht gross auseinandergesetzt. Spannend zu wissen wäre ja noch, ob eine Kerze, die nach Penis riecht, ebenfalls ein Verkaufsschlager würde.

Würde sie?

Keine Ahnung – nach meinem heutigen Wissenstand kann ich nur sagen: In nächster Zeit wird es bei uns keine solchen Kerzen zu kaufen geben.

Über die weibliche Anatomie gibt es offenbar grosse gesellschaftliche Wissenslücken.

Dem ist sicher so. Was ist genau eine Klitoris, wie gross ist sie, und welche Funktion hat sie? Antworten auf diese Fragen wurde erst in den letzten Jahren breiter von der Gesellschaft diskutiert. Es herrscht nach wie vor das Klischee vor, dass die weibliche Sexualität, also die Vulva oder die Klitoris, so unglaublich kompliziert und es deshalb für Frauen unglaublich viel schwieriger sei zum Orgasmus zu kommen. Ich habe das Gefühl: Kein Wunder, dass es sich so kompliziert anfühlt, wenn es einem so das ganze Leben lang eingetrichtert wird. Biologisch gesehen gibt es jedoch absolut keinen Grund, warum es für Frauen schwieriger sein sollte, zum Orgasmus zu kommen.

Jessica Sigerist (zusammen mit ihrem Geschäftspartner Tobias Zimmermann) über Sextoys: «Für das Funktionieren einer Partnerschaft ist eine gute Kommunikation wichtig. Die Sexualität innerhalb einer Beziehung ist ein derart komplexes Thema – es ist sicher nicht nur mit der Verwendung eines Sextoys zu lösen.»
Jessica Sigerist (zusammen mit ihrem Geschäftspartner Tobias Zimmermann) über Sextoys: «Für das Funktionieren einer Partnerschaft ist eine gute Kommunikation wichtig. Die Sexualität innerhalb einer Beziehung ist ein derart komplexes Thema – es ist sicher nicht nur mit der Verwendung eines Sextoys zu lösen.»
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‹Frauen sind mit ihrem Körper unzufriedener als Männer›, behauptet die deutsche Sexualtherapeutin Andrea Bräu.

Das denke ich auch.

Was könnte der Grund dafür sein?

Der weibliche Körper steht viel stärker in der Öffentlichkeit, wird viel heftiger kritisiert. Für Frauen ist die Schönheit eminent wichtig, Männer haben mehr Möglichkeiten Attraktivität herzustellen – etwa durch reich und intelligent sein.

Frauen können doch auch intelligent und reich sein.

Natürlich können Frauen auch intelligent und reich sein, es macht sie aber noch nicht attraktiv genug, wenn sie nicht gleichzeitig auch gut aussehen. Schauen Sie doch nur in den Medien: Egal, warum eine Frau im Rampenlicht steht, ihr Äusseres ist immer Thema. Bei einem Model kann ich es ja noch verstehen, aber nicht bei einer Politikerin oder einer Sportlerin. Warum wird bei diesen Frauen ihr Äusseres kritisiert? Bei Männern passiert das nicht.

Während der Pubertät vergleichen viele Buben irgendwann einmal ihre äusseren Geschlechtsteile mit den Kollegen. Tun das die Mädchen auch?

Ich selber habe es nie erlebt. Bei den Frauen ist das nach wie vor mehr tabuisiert. Ich habe schon an ‹Vulva Watching›-Workshops teilgenommen und traf dort Frauen, die noch nie eine andere Vulva, ausser die eigene, betrachtet haben. Viele Frauen realisieren oft erst während solcher Workshops, dass Vulvas ganz unterschiedlich aussehen können. Eine Frau meinte jahrelang, sie hätte zu grosse Schamlippen. Grosse Schamlippen sollen ja aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen etwas Negatives sein. Es wurde sehr emotional, als sie realisierte, dass andere Frauen ähnlich geformte und manche noch grössere Schamlippen haben.



Wozu braucht Frau oder Mann überhaupt ein Sextoy?

Kurz und gut: Es macht Spass. Zudem kann es für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung ein Hilfsmittel sein, um Stellen am Körper zu erreichen, an die sie sonst kaum rankommen. Auch für Leute, die sich nicht wohlfühlen, ihre Genitalien selbst zu berühren, ist es selbstermächtigend. Wir sagen aber nicht: Ist dein Sexleben eingeschlafen, benutze ein Sextoy. Natürlich kann es eine gute Idee sein, wenn das Sexleben eingeschlafen ist, neue Dinge auszuprobieren. Aber wir möchten unserer Kundschaft nicht unterstellen, dass sie schlechten Sex hat. Sexspielzeug kann man auch verwenden, wenn man bereits ein super Sexleben hat. Mit Sexspielzeug kann man Neues entdecken. Wir essen ja auch nicht jeden Tag das gleiche Menü.

Können Sextoys eine Partnerschaft spannender machen – oder sogar retten?

Retten glaube ich eher nicht. Für das Funktionieren einer Partnerschaft ist eine gute Kommunikation wichtig. Die Sexualität innerhalb einer Beziehung ist ein derart komplexes Thema – es ist sicher nicht nur mit der Verwendung eines Sextoys zu lösen. Vielleicht sorgt ein Toy aber dafür, dass eine Diskussion angestossen wird.

Vor einigen Monaten sprach ich mit der Geschäftsführerin des Erotikmarktes in Volketswil. Sie meinte, der Womanizer sei zurzeit das meist verkaufte Sextoy. Bei Ihnen gibt es den nicht zu kaufen. Warum?

Das stimmt – wir haben jedoch zwei andere Klitoris-Stimulatoren im Angebot, die ebenfalls mit Druckwellen arbeiten. Sie heissen Satisfyer und Lelo und gehören bei uns ebenfalls zu den meistverkauften Toys.

Was kaufen Frauen sonst noch bei Ihnen ein?

Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil wir davon ausgehen, dass es nicht nur zwei binäre Geschlechter gibt. Wer bei uns einkauft, muss kein Geschlecht eingeben. Kategorien ‹für Frauen› und ‹für Männer› finden wir doof. Wir gehen davon aus, dass es Menschen gibt, die weder das eine noch das andere Geschlecht haben. Eine Statistik nach Geschlecht führen wir deshalb nicht.

Auf Ihrer Internetseite kann man lesen, was Sie und Ihr Geschäftspartner für sexuelle Vorlieben haben.

Unsere Kundschaft soll wissen, wer wir sind und was wir mögen.

Testen Sie alle Sextoys?

Nicht alle, aber viele.

Gibt es Toys, die Sie absolut nicht verwenden würden?

Ich bin recht offen, probiere eigentlich fast alles aus – aber natürlich gibt es Spielarten, bei denen ich weiss, dass sie nicht meinen Vorlieben entsprechen.

Welche wären das?

Alles was extreme Schmerzen auslöst, würde ich lieber nicht testen wollen. Was aber nicht heisst, dass wir diese Produkte nicht trotzdem in unserem Shop aufnehmen würden.

Gibt es Produkte, die es ausdrücklich in Ihrem Shop nicht geben darf?

Wie bereits gesagt, unsere Produkte müssen alle body-safe sein. Und weil es keine Gender-Kategorien gibt, sollen die auch nicht auf den Verpackungen erscheinen. Wir wollen zudem keine Produkte mit offensichtlichen und und diskriminierenden Bildern drauf.

Sie bieten auch BDSM-Produkte an. Bei Sadomaso denken viele Menschen an Erniedrigung – sprich: Es funktioniert also darüber, dass eine Person zum Objekt gemacht wird.

BDSM steht für ganz viele Dinge: Bondage und Disziplinierung, Dominanz und Unterwerfung, Sadismus und Masochismus. Ich persönlich finde Erniedrigung eine interessante Spielart, wenn es im konsensualen Rahmen stattfindet – und das ist bei BDSM eine Grundvoraussetzung. Alles andere wäre ein sexueller Übergriff oder Missbrauch.



Es scheint also eine Frage der Präsentation zu sein – sprich: raus aus der schwarz gestrichenen Folterkeller-Kammer?

BDSM hat leider ein schlechtes Image in der Gesellschaft. Das ist schade. Es wäre schön, wenn es diese Vorurteile nicht gäbe. Ich hoffe, dass wir mit unserem Shop diesen entgegenwirken können. Ja, es gibt Menschen, die gern Sex machen in Folterkammern, aber BDSM ist viel, viel mehr.

Was finden Sie besonders spannend daran?

BDSM sieht die Sexualität viel breiter und will davon wegkommen, dass es nur um die Stimulation der Genitalien geht. Beim Spanking zum Beispiel geht es eben nicht nur um Schmerzen.

Sondern?

Wenn man auf die Haut schlägt – und ich rede jetzt nicht von harten, schmerzhaften Schlägen –, ist die Haut danach deutlich empfindsamer für ein Streicheln oder das Spiel mit unterschiedlichen Temperaturen. Oder man kann danach auch mit einem Nadelrädli über die Haut fahren. Ein Produkt, dass sich bei uns übrigens auch sehr gut verkauft. Solche Spielzeuge können die Sexualität vielfältiger machen – also nicht nur: Vorspiel, Penetration, fertig.

Und nochmals ein Zitat von Sexualtherapeutin Andrea Bräu: ‹Die Menschen haben keine Lust mehr , immer zu performen, zu funktionieren, und das gilt auch für Sex. Denn mit einem erfüllenden, erotischen Erleben haben Turnübungen und Höchstleistungen nichts zu tun.› Wahr oder nicht?

Gute Sexualität hat natürlich nicht immer nur mit Penetration zu tun. Und es muss nicht immer alles heftig und wild sein. Natürlich, das alles kann cool sein, und man kann es auch so machen, aber daneben gibt es noch viel mehr zu entdecken. Sex muss auch nicht immer in einem Orgasmus enden. Wer diesen Druck wegnimmt, ist offener für neue und andere Spielarten.

Ist Lachen während sexueller Aktivitäten empfehlenswert?

Unbedingt, Sex soll lustig sein.

Sie wollen eine Normalität herstellen für Dinge, die von der gesellschaftlichen Norm eher abweichen.

So ist es. Die Gesellschaft wertet ständig, welche Art von Sexualität okay ist und welche nicht. Für mich hingegen ist jede Art von Sexualität unter erwachsenen Menschen okay, wenn es im gegenseitigen Einverständnis geschieht.

Verschickt werden Ihre Produkte aber trotzdem in neutralen Verpackungen. Weshalb?

Wir fänden es auch lustiger, wenn das bei uns anders wäre und wir eine indiskrete Verpackung verwenden könnten – die Enttabuisierung ist schliesslich unser Ziel. Es schämt sich ja auch niemand, ein Päckli von Zalando zu bekommen. Im Austausch mit ähnlichen Sexshops mussten wir jedoch erfahren: Diskrete Verpackung ist wichtig, weil die Gesellschaft noch nicht so offen und progressiv ist.

Schätzen Sie die Schweizerinnen und Schweizer vielleicht als zu prüde ein? Sogar der Erotikmarkt benutzt heute keine neutralen Plastiksäcke mehr – sondern solche mit dem Logo drauf.

Das ist mutig.

Die Schweizer sollen tolle Sexshop-Kunden sein, erklärten zwei Mitarbeiter eines Sexshops auf der Hamburger Reeperbahn in einem ‹Spiegel›-Gespräch. Und wissen Sie warum? ‹Von denen kommen ganz viele Fetischisten, für die ist es hier billiger, und sie sind lockerer und machen sich seltener lustig über Utensilien, die sie nicht kennen.›

Was sicher stimmt, ist, dass die Schweizerinnen und Schweizer zu den zahlungskräftigen Kunden gehören – andere internationalen Vergleiche habe ich keine. Ich denke jedoch, hierzulande gibt es immer mehr Menschen, die offener mit ihrer Sexualität umgehen wollen, die zeigen wollen, dass sie stolz darauf sind. Diese Menschen haben keine Lust mehr, ihre Sexualität heimlich oder verschämt auszuleben – egal, ob kinky, hetero-, homo- oder bisexuell.

Jessica Sigerist über Sadomaso: «BDSM hat leider ein schlechtes Image in der Gesellschaft. Das ist schade. Es wäre schön, wenn es diese Vorurteile nicht gäbe. Ich hoffe, dass wir mit unserem Shop diesen entgegenwirken können. Ja, es gibt Menschen, die gern Sex machen in Folterkammern, aber BDSM ist viel, viel mehr.» (Symbolbild)
Jessica Sigerist über Sadomaso: «BDSM hat leider ein schlechtes Image in der Gesellschaft. Das ist schade. Es wäre schön, wenn es diese Vorurteile nicht gäbe. Ich hoffe, dass wir mit unserem Shop diesen entgegenwirken können. Ja, es gibt Menschen, die gern Sex machen in Folterkammern, aber BDSM ist viel, viel mehr.» (Symbolbild)
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Was hat Ihnen Ihre Mutter über Männer beigebracht?

Oh, das ist jetzt eine klischeehafte Frage: Mütter sollen gefälligst ihren Töchtern gewisse Dinge über Männer beibringen. Schlussendlich hat mir mein Vater viel mehr über die Männer beigebracht, weil er mir seine Art von Männlichkeit vorgelebt hat. Und meine Mutter hat mir beigebracht, dass man nicht unbedingt einen Mann braucht.

Und was hat Ihnen Ihre Mutter über Frauen beigebracht?

Ganz viel. Meine Mutter war immer schon feministisch engagiert. Meine Eltern haben sich zudem immer die Lohn- und die Familienarbeit zu gleichen Teilen aufgeteilt. Etwas, was bis heute nicht selbstverständlich ist. Meine Eltern haben mir vor allem beigebracht, dass es nicht darauf ankommt, was man für ein Geschlecht hat, sondern jeder Mensch hat das Recht darauf, zu sein und zu lassen, was man möchte – egal, wer oder was man ist.

Reden wir Schweizerinnen und Schweizer zu wenig über Sex?

Ja und nein. Sex ist in unserer Gesellschaft omnipräsent – aktuell sind überall Werbungen für irgendwelche Datingplattformen zu sehen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass man selten über die Dinge spricht, die wirklich interessant sind. Natürlich sagen viele ‹Sex ist geil›, aber konkreter darüber gesprochen wird nur selten. Die Angst vor Verletzungen ist zu gross.

Hängt dies vielleicht mit der Religion und den gesellschaftlichen Rollenbildern zusammen?

Die Geschichte der Tabuisierung der Sexualität ist schon mehrere Jahrtausende alt. In unserer Gesellschaft durfte Sexualität vor allem im Kontext einer Ehe und zum Zweck der Fortpflanzung stattfinden. Auch wenn sich das in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat und One-Night-Stands und Ähnliches heute okay sind, gibt es immer noch viele Dinge, die nicht akzeptiert sind. Eine offene Beziehung leben, gilt nach wie vor als sehr speziell, ist sogar vielerorts noch verpönt ...

... und dass, obwohl bekannt ist, dass viele Menschen während einer Partnerschaft fremdgehen.

Es gehen mehr Menschen in ihrem Leben fremd, als dass sie sich für eine offene Beziehung entscheiden. Diese Doppelmoral nervt. Obwohl immer weniger Menschen in die Kirche gehen, steckt der Sittenkatalog der Religionen leider nach wie vor tief in der Gesellschaft drin.



Sie leben in einer Beziehung mit einem Mann – haben aber auch mit anderen Menschen Sex. Welche Regeln gelten in Ihrer Beziehung?

Es gilt eine einzige unumstössliche Regel: Safer Sex. Ansonsten kann jemand, der in einer polyamoren Beziehung lebt, rasch sehr viele andere Menschen in Gefahr bringen. Das ist übrigens genau eines der grossen Probleme beim Fremdgehen: Es wird nicht offen darüber gesprochen, was das Risiko der Übertragung von Geschlechtskrankheiten eminent erhöhen kann. Was in unserer Beziehung zudem sehr wichtig ist: Über alles offen reden. Es liegt in der Verantwortung von uns beiden, immer offen zu kommunizieren, was man will und was nicht.

Wird Treue überbewertet?

Rückfrage: Was definiert man als Treue? Mir ist in einer Partnerschaft oder in einer Freundschaft Treue im Sinn von Ehrlichkeit und Loyalität sehr wichtig. Das mache ich aber nicht daran fest, ob mein Gegenüber noch mit anderen Menschen Sex hat.

Sind Sie eifersüchtig?

Menschen, die in einer offenen oder polyamoren Beziehung leben, kennen dieses Gefühl genauso. Für mich ist jedoch die Frage: Wie gehe ich mit diesem Gefühl um? Auch wer in einer monogamen Beziehung lebt, ist nicht vor Eifersucht gefeit.

Ist Sex politisch?

Ich würde unser politisches System als patriarchalisch beschreiben, welches auf jahrhundertelanger Unterdrückung weiblicher und queerer Sexualität beruht. Aus diesem Grund kann man alle Arten von Sex, die ausserhalb einer heterosexuellen Beziehung stattfinden, als einen politischen Akt verstehen. Die Politik hat aber auch sonst viel Einfluss auf unsere Sexualität: Wem ist es erlaubt, zu heiraten – und wem nicht? Lesben und Schwule dürfen zwar heute per Gesetz Sex haben, aber heiraten dürfen sie nach wie vor nicht.

Seit Sie Ihren Sexshop gestartet haben, soll Ihr Sexleben arg gelitten haben, war in einem Interview zu lesen.

Zum Glück hat es sich inzwischen etwas gebessert – aber mein Tipp war auch eher so gemeint, dass wer viel Sex will, besser kein eigenes Unternehmen gründen sollte (lacht).

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