Zum 100. GeburtstagFriedrich Dürrenmatt – der Phantast und Skeptiker
Beat Mazenauer, Keystone-SDA
5.1.2021 - 15:36
Das Werk von Friedrich Dürrenmatt ist ein eigener Kosmos. Diesen kennt kaum jemand besser als die beiden Literaturwissenschaftler Ulrich Weber und Rudolf Probst. Eine Annäherung an das Schaffen Dürrenmatts, der heute 100 Jahre alt geworden wäre.
Wer sich dem umfangreichen Werk von Friedrich Dürrenmatt erstmals nähern möchte, kann mit dem Kriminalroman «Der Richter und sein Henker» von 1951 beginnen. Das populäre Krimiformat bot dem Autor damals die Möglichkeit, seine finanziellen Probleme zu lindern.
Das Resultat war ein Geniestreich à la Dürrenmatt. Es geht in dem Buch um Fragen der Moral und Gerechtigkeit, zwei seiner Kernthemen, die zum Schluss eine verblüffende Lösung erfahren. Nach einer letzten Wendung erscheint der Kommissar nicht nur als Fahnder vor dem Gesetz, sondern auch als Richter ausserhalb des Gesetzes.
«Stoffe»: literarisches Bergwerk
Für eine erste Dürrenmatt-Lektüre empfiehlt Rudolf Probst spontan das Spätwerk «Die Stoffe». Dieses sei zwar anspruchsvoll zu lesen, aber einfach «ein grossartiges Buch», sagt er gegenüber Keystone-SDA. Gemeinsam mit Ulrich Weber arbeitet er seit Jahren an der Aufarbeitung dieses literarischen Bergwerks voller Aus- und Abbrüche.
Dürrenmatt bezeichnete «Die Stoffe» als «Geschichte meiner Schriftstellerei», in dem sein Leben ebenso wie alle seine Stoffe, auch die nie realisierten, aufgehoben seien. Es ist faszinierend zu lesen, sagt Probst, «wie hier ein Autor versucht, sein eigenes Leben zu beschreiben und damit nicht fertig wird». Der Autor selbst hielt ein solches Unterfangen «für unmöglich, wenn auch für verständlich».
Umfangreiche Biographie
Einen biographischen Versuch hat jüngst Ulrich Weber vorgelegt. Sein Buch ist ein überzeugendes Porträt dieses «Autors, Denkers und Künstlers». Weber geht darin auf Dürrenmatts komplexe Schaffensweise ein. «Schreiben musste für ihn ein Experiment, ein gedankliches und künstlerisches Abenteuer sein», schreibt Weber.
Dazu ergänzt Probst, dass Dürrenmatt ein «Drauflosschreiber» gewesen sei, «der nicht vom Konzept ausgeht, sondern von einer Geschichte, die er in seinem Kopf wälzte und im Gespräch mit anderen erprobte». Erst danach machte er sich Notizen dazu. Dabei habe er oft lange nicht gewusst, «worauf eine solche Geschichte überhaupt hinausläuft».
Moral, Skepsis, Zufall
Das permanente sich Entwerfen, das Suchen nach neuen dramaturgischen Lösungen zeichnet Dürrenmatt speziell aus, glaubt Ulrich Weber. «Es war ihm zu langweilig, etwas zu wiederholen, was er einmal erfunden hatte».
Deshalb führte er den Kommissar Bärlach in «Der Richter und sein Henker» als todkranken Mann ein, damit daraus nie eine Serie werden konnte, wäre sie noch so erfolgreich. Den kreativen Suchprozess demonstrieren auch Stücke wie «Die Physiker». Dürrenmatt fand die schlimmstmögliche dramatische Wende oft erst ganz zuletzt, während der Proben.
Vielleicht ist es genau das, was seine Texte bis heute so reizvoll macht: das «eleganteste Schachmatt», die sprühende Fantasie, die vorausahnende Skepsis, der kreative Zufall. «Der Wissende weiss, dass er nur glaubt, der Glaubende glaubt zu wissen», ahnte er.
An die Stelle von absoluten Gewissheiten sei «das Suchen nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit und nach Freiheit» zu setzen, schrieb Dürrenmatt. Schon in den 1970er Jahren nahm er Fragen der Digitalität vorweg, sagt Weber. Er hat mit wissenschaftlicher Neugier die Risiken der Technik benannt und Unberechenbarkeiten erkannt, die heute virulent sind.
Kreative Unrast, private Ruhe
Diese produktive Unrast bedurfte freilich der Ruhe und Kontinuität, die Dürrenmatt zuhause im Privaten fand. In seiner Biographie beleuchtet Ulrich Weber auch das Familienleben, das nach aussen «arm an spektakulären Ereignissen» war.
Mit profunder Detailkenntnis beschreibt er den Bogen von der Kindheit in einem Pfarrhaus in Konolfingen im Emmental über die frühen Versuche und ersten Krisen bis zu den Erfolgen, mit denen wir den Namen Dürrenmatt verbinden. Geradezu «merkwürdig» sei es, merkt Weber an, dass «alle seine kanonischen Texte in 10, maximal 15 Jahren entstanden».
Mit 45 war Dürrenmatt auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ulrich Weber beschreibt diesen Moment in der Mitte seiner Biographie. Was darauf folgte, war der lange, gewundene Entwicklungsprozess hin zum Spät-, Haupt- und Lebenswerk «Die Stoffe», das in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben ist.
Dürrenmatts letzte Wende
Wenn dieses Werk demnächst in einer neuen Ausgabe erscheint, schliesst sich auch für das Schweizerische Literaturarchiv in Bern ein Kreis. Seine Gründung 1991 geht auf eine Initiative von Dürrenmatt zurück. Dies sei nicht ganz ohne Hintergedanken geschehen, bemerken die beiden Herausgeber mit einem Lachen.
Dürrenmatt erhoffte sich damit wohl, dass sich «zwei Forscher wie wir auf diesen Berg von Manuskripten stürzen», um ihn auf- und abzuarbeiten. So hat Friedrich Dürrenmatt nach dem Tod nochmals eine elegante Wende inszeniert, für einmal die bestmögliche.