Weniger Ansteckungen Die «Pille davor», die den schwulen Sex verändert

Von Bruno Bötschi

2.7.2019

In Berlin sind viele Schwule von der «Pille davor» begeistert und einige Präventivmediziner sind es auch. In der Schweiz hingegen bereitet sie den Behörden noch Kopfzerbrechen.
In Berlin sind viele Schwule von der «Pille davor» begeistert und einige Präventivmediziner sind es auch. In der Schweiz hingegen bereitet sie den Behörden noch Kopfzerbrechen.
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Seit es die Präexpositionsprohylaxe (kurz PrEP) gibt, lehnen viele schwule Männer das Kondom ab. Aber nicht alle sind glücklich über die Pille, die einer Ansteckung mit HIV vorbeugt.

Thomas H. (Name geändert) machte kürzlich in Tel Aviv Ferien. Der 50-Jährige genoss das Nachtleben und hatte mehrmals sexuellen Kontakt zu anderen Männern. Thomas H. ist Single und als schwuler Mann mit der Regel aufgewachsen: «Sex nur mit Gummi».

Daran hielt er sich jahrelang und steckte sich nie mit schwerer verlaufenden bakteriellen oder viralen Infektionen an. Auch von einer Infektion mit dem HI-Virus blieb er bislang verschont. Kondome waren für ihn nie ein Problem, auch wenn er weiss, dass es ohne schöner, gefühlvoller wäre.

Seit zwei Jahren macht Thomas H. in seiner Heimatstadt Berlin die Erfahrung, dass immer mehr Männer «bare» Sex, also ungeschützten Verkehr, haben wollen.

Verlässliche Massnahme

Was ist da los? Für die Präexpositionsprohylaxe, kurz PrEP , werden Medikamente eingesetzt, die ursprünglich für die HIV-Therapie entwickelt wurden. Eine Kombination der Wirkstoffe Emtricitabin und Tenofovir verhindert, dass sich das Virus in den Schleimhäuten ausbreiten kann.

Das ist keine Behauptung, sondern wissenschaftlich gut belegt. Daniel Koch, Leiter der Abteilung für übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), sagte dazu in der «Aargauer Zeitung»: «In Sachen PrEP halten wir uns an die Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für sexuelle Gesundheit aus dem Jahr 2016, welche die Präexpositionsprohylaxe für eine verlässliche Massnahme zum Schutz vor HIV hält.»

Im selben Artikel formulierte es Daniel Seiler, der ehemalige Geschäftsführer der Aids-Hilfe Schweiz, noch konkreter: «Die Aids-Hilfe Schweiz steht hinter einer ärztlich begleiteten Abgabe der PrEP als HIV-Prophylaxe, weil es punkto HIV genauso sicher ist wie ein Kondom.»

In der Schweiz viel zu teuer

Wurden noch vor wenigen Jahren Männer, die es bare machen, kritisch gesehen, sind es jetzt – so empfand es zumindest Thomas H. – Gummibenützer, die ausgegrenzt werden. «Kaum packte ich ein Kondom aus, sagte ich mache nur geschützten Verkehr, verlor das Gegenüber regelmässig das Interesse.»

Weil Thomas H. weiterhin Sex haben wollte, entschied er sich vor zwei Jahren, ebenfalls PrEP zu nehmen. Seither schluckt er jeden Tag eine blaue Pille. (Symbolbild).
Weil Thomas H. weiterhin Sex haben wollte, entschied er sich vor zwei Jahren, ebenfalls PrEP zu nehmen. Seither schluckt er jeden Tag eine blaue Pille. (Symbolbild).
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Eine Entwicklung, über die Thomas H. nicht glücklich war. Weil er aber weiterhin Sex haben wollte, entschied er sich vor zwei Jahren, ebenfalls PrEP zu nehmen. Seither schluckt er jeden Tag eine blaue Pille.

In Berlin sind viele Schwule von der «Pille davor» begeistert und einige Präventivmedizinern sind es auch. In der Schweiz hingegen bereitet sie den Behörden Kopfzerbrechen.  Während die Kosten für PrEP in Deutschland bald von den Krankenkassen getragen werden, ist die blaue Pille in der Schweiz (noch) nicht als HIV-Prophylaxe zugelassen – und dementsprechend viel teurer. Eine Monatsration der Pille kostet hierzulande derzeit rund 900 Franken und ist damit für viele Betroffenen zu teuer.

Trotzdem kann das Medikament von Ärzten in der Schweiz – sozusagen «off label» – verschrieben werden. Rund 2000 Männer, wird geschätzt, machten davon bereits Gebrauch.

Nicht für alle ein Segen

Benjamin Hampel blickt mit professionellen, aber kritischen Augen auf die PrEP. Hampel ist leitender Arzt am Checkpoint Zürich und Leiter der PrEP Sprechstunde am Universitätsspital Zürich, zudem erforscht er im Rahmen eines schweizweiten Forschungsprojekts den Einfluss der PrEP auf die Schweiz. «Wir sehen momentan einen deutlichen Anstieg der PrEP-Nachfrage.» Für manche Leute sei die Pille gut, vielleicht sogar ein Segen, aber das gelte längst nicht für alle.

Wer soll den PrEP nehmen? PrEP sei, so Hampel, eine weitere Option, wenn es um den Schutz vor HIV gehe. «Die bereits bestehenden Massnahmen, insbesondere der Gebrauch von Kondomen,  bleiben nach wie vor aktuell. PrEP richtet sich an Menschen, die Probleme mit der konsequenten Anwendung von Kondomen und gleichzeitig ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Infektion haben.»

Mit den bisherigen Safer-Sex-Strategien könnten, so Hampel, nicht alle Menschen erreicht werden. Dies habe unterschiedliche Ursachen, etwa eine Latexallergie oder Sex unter Einfluss von Alkohol oder Drogen. Statistisch gesehen stellt auch das frisch Verliebtsein ein Risiko dar.

PrEP kann die Nieren schädigen

Vor allem die möglichen Nebenwirkungen und der Preis seien laut Präventivmediziner Hampel ein Grund dafür,  weshalb viele nach dem Beratungsgespräch dann doch lieber weiter auf das Kondom setzten: Studien belegen, dass das Medikament die Nieren schädigen und zu Osteoporose führen kann. Bei Letzterer kommt es zu einem Abbau von Knochensubstanz.

Aufklärung tut not. Eine Umfrage des Universitätsspitals Zürich zeigte, dass 20 Prozent aller PrEP-User in der Schweiz, das Medikament ohne ärztliche Kontrolle einnehmen. «Dagegen müssen wir dringend etwas unternehmen», sagt Hampel.

Nur wenn man regelmässig zur ärztlichen Kontrolle gehe, könne man rechtzeitig auf allfällig auftretende Nebenwirkungen reagieren. Zudem sei es problematisch, wenn man das Medikament nehme und bereits mit HIV infiziert sei: «Dann kann es zu einer Resistenzentwicklung bei den Viren kommen, da das Medikament keine vollständige HIV-Therapie darstellt.»

Schützt nicht gegen andere Geschlechtskrankheiten

Wie hoch das Gesundheitsrisiko trotz PrEP sein kann, musste auch Thomas H. erfahren.  Kaum aus Tel Aviv zurückgekehrt, plagten ihn hohes Fieber und Schüttelfrost. Er machte beim Arzt einen Bluttest – nach einem Tag dann der Befund: Chlamydien und Syphilis. Thomas H. erhielt zwei schmerzhafte Penicillin-Spritzen, zudem musste er Antibiotika schlucken.

PrEP-User verlassen sich, wie viele andere Menschen auch, häufig auf Antibiotika. Eingesetzt werden dürfen diese aber ausschliesslich unter ärztlicher Kontrolle, um gefährlichen Restistenzbildungen vorzubeugen. In England wurde jüngst eine Trippervariante gemeldet, die nicht mehr mit Antibiotika behandelbar ist.

Das Problem: PrEP wirkt zwar vor einer Ansteckung mit HIV – es schützt jedoch nicht vor anderen Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhö (Tripper), Chlamydien oder Hepatitis C.

Trotzdem, betont Hampel, sähe man in grossen Studien keinen Unterschied zwischen Kondomanwender und Nicht-Kondomanweder, wenn Gruppen mit der gleichen Anzahl an Partner untersucht werden. Die meisten Geschlechtskrankheiten, so auch Syphilis und Gonorrhö, werden sehr oft durch Oralverkehr übertragen. Hier ist laut den offiziellen Safer-Sex Regeln, die für die Vermeidung von HIV entwickelt worden sind, kein Kondom empfohlen.

«Diese bakterielle Infektionen können sogar beim gegenseitig Masturbieren entstehen», sagt Hampel, «und wie jüngst bewiesen, auch beim Küssen übertragen werden. Wer also wechselnde Sexualpartner hat, sollte sich daher regelmässig testen lassen, egal ob auf PrEP oder nicht. Symptome sind hierfür leider kein verlässlicher Marker, da diese oft fehlen oder nicht typisch sind.»

HIV-Infektionen gehen weltweit zurück

Fachleute glauben auch, dass die engmaschige Beobachtung bei PrEP-zu einer fallenden Rate sexuell übertragbarer Krankheiten führt.

«Es gibt Studien», betont Hampel, «die ein Rückgang der Geschlechtskrankheiten durch gute PrEP-Programme zeigen, da dann Leute mit vielen Partner alle drei Monate getestet werden.» In fast allen Regionen, in denen PrEP bei Risikogruppen eingeführt würde, gebe es zudem einen Rückgang der HIV Neudiagnosen – zum Teil mit einem Rekordtief wie zu Beginn der Epidemie.

Rät die Schwulenberatung also offensiv zu PrEP? Nochmals der Blick nach Deutschland: «Unser primäres Ziel ist es, die Transmission des Virus zu verhindern,» sagte Christoph Weber gegenüber der Tageszeitung «Tagesspiegel». Internist Weber ist Medizinischer Leiter des Checkpoint BLN in Berlin, einem Gesundheitszentrum, dass die PrEP kostenfrei an Menschen abgibt, die mittellos sind. «Wir beraten unsere Klienten entsprechend ihrer Lebenssituation.» Tatsächlich sei, so Weber, die Entscheidung für die PrEP keine lebenslange,  viele würden sie nur befristet nehmen und wieder absetzen, wenn sie nicht mehr ins Leben passt.

Thomas H. ist nach seinen Tel-Aviv-Erlebnissen die Lust auf PrEP fürs Erste vergangen – er will künftig, so wie früher auch, nur noch mit Gummi Sex haben.

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