Kieler Incel-«Tatort» Wie gefährlich ist die organisierte Gewalt gegen Frauen?

tsch

7.3.2021

Der Kieler Incel-«Tatort» beschäftigte sich mit organisiertem und gewalttätigem Frauenhass. Wie verbreitet sind solche Bewegungen, die vor Diffamierung, aber auch Vergewaltigung und Mord nicht zurückschrecken? Und wie viele Femizide gibt es in der Schweiz?

tsch

7.3.2021

Der Kieler «Tatort: Borowski und die Angst der weissen Männer» thematisierte etwas, das in Deutschland und in der Schweiz noch weitgehend übersehen wird: Frauenfeindliche Bewegungen formieren und radikalisieren sich im Internet. Oft sind diese Frauenhasser zudem rechtsextrem und gewaltbereit. Einige dieser Männer werden zu Attentätern, wie Beispiele aus Hanau, Halle, Christchurch oder der Massenmörder Anders Breivik in Oslo zeigen.

Zum Weltfrauentag am 8. März malte der Kieler «Tatort» ein Szenario, in dem sich deutsche Frauenhasser nicht nur im Netz, sondern auch in echt konspirativ gegen Frauen organisierten. Auch wenn die Behauptung solcher Zusammenkünfte ein wenig kühn geriet – es gibt sie unter anderem Vorwand so oder so ähnlich wohl doch.

Worum ging es?

Der junge Parkhauswächter Mario Lohse (stark: Joseph Bundschuh) ist ein verschüchtert wirkender Aussenseiter. Kraft für seine Diskobesuche, bei denen er ein Mädchen kennenlernen will, holt er sich durch Online-Schulungen des Männer-Coaches Hank Massmann (Arnd Klawitter). Massmann ist ein sogenannter Pick-up-Artist, also ein Aufreiss-Künstler. Über Bücher, Seminare und eben Online-Schulungen bestärkt er frustrierte Männer in einem aggressiv-dominanten Auftreten gegenüber Frauen. Als eine junge Frau, die Mario Lohse in einer Kieler Disko angesprochen hat, einige Stunden später tot aufgefunden wird, beginnen die Kommissare Borowski (Axel Milberg) und Sahin (Almila Bagriacik) zu ermitteln.

Wer sind die Incels?

Die Bewegung Incel kommt aus Amerika. Ihre Mitglieder – männlich, weiss und von Frauen ignoriert – sehen sich im involuntary celibate, also einem unfreiwilligen Zölibat lebend. Sie fordern unter anderem eine «Zuteilung» von Frauen an Männern, die – wie sie – weniger attraktiv sind. Einer ihrer Helden ist der «Joker» aus dem gleichnamigen Film mit Joaquin Phoenix. Viele Incels sind nicht nur frauenfeindlich, sondern auch fremdenfeindlich und rechtsradikal. Die Bewegung organisiert sich im Internet.



Wie organisieren sich Frauenfeinde in Deutschland?

Der «Spiegel» widmete dem Thema «Feindbild Frau» im Februar 2021 eine Titelstory. Darin werden mehrere Internetforen genannt, die sogenannte «Manosphere», die gegen Frauen hetzt. Darunter die Männernetzwerke «Wikimannia» oder «MGTOW» (Men going their own way). Mittlerweile wandern die Frauenhasser häufig in geschlossene Internetforen ab, da sie auf offiziellen Plattformen wie Facebook – hier gab es etwa drei Gruppen mit bis zu 500 Mitgliedern – von Internetwächtern entdeckt wurden.

Gibt es solche Antifrauen-«Partys» wie im «Tatort»?

Im Film nimmt Borowski «undercover» an einem gröligen, Bierflaschen schwenkenden Treff frustrierter Männer teil, die während einer Lagerhallen-Party von Pick-up-Artist Massmann ihrem Frauenhass freien Lauf lassen. Eine pointierte Szene, die in dieser Offenheit vielleicht Fantasie ist, aber trotzdem vorstellbar bleibt. Auf klassischen Bierzelt-Veranstaltungen und Zusammenkünften rechter Parteien und Organisationen kann man sich – zumindest in klarer Andeutung – ähnliche Thesen und Zustimmungsrituale vorstellen.

Trotzdem benötigt die Szene, wie die oben genannten Attentate zeigen, keine realen Kontakte und Partys, damit ihre Mitglieder zu Gewalttätern werden. Jene Attentäter, die lange am Computer sitzen, bevor sie irgendwann ihren Waffenschrank öffnen, sind – leider – typischer, was ihre Identifikation vor der Tat erschwert.

Was tun die Behörden?

Das deutsche BKA teilt mit, dass man Frauenfeindlichkeit in der polizeilichen Kriminalstatistik nicht gesondert erfasse. Die Initiative «Stärker als Gewalt» des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) weist zumindest gesondert auf das Problem hin und bietet über eine Website Hilfe für die Bereiche «Häusliche Gewalt», «Digitale Gewalt», «Sexualisierte Gewalt» und «Gewalt am Arbeitsplatz». In England ist man schon weiter: Seit April 2016 werden in der Grafschaft Nottinghamshire frauenfeindliche Taten von der Polizei als Hasskriminalität gesondert erfasst und behandelt. Mittlerweile findet das Modell in vielen grossen Städten und Regionen des Vereinigten Königreichs grosse Aufmerksamkeit.

Werden tatsächlich mehr Frauen Opfer von Gewalt?

Ganz klar: Ja. 2018 wurden laut der BKA-Statistik insgesamt 140'755 Personen (Vorjahr: 138'893) Opfer versuchter und vollendeter Gewalt. 81,3 Prozent davon waren Frauen. Bei Vergewaltigung, sexuellen Übergriffen und sexueller Nötigung waren es 98,4 Prozent. Bei Bedrohung, Stalking und Nötigung in der Partnerschaft waren es 88,5 Prozent. Bei vorsätzlicher, einfacher Körperverletzung betrug der Frauenanteil 79,9 Prozent, bei Mord und Totschlag in Paarbeziehungen 77 Prozent.

Wie viel Gewalt gegen Frauen gibt es in der Schweiz?

Auch in der Schweiz sind überproportional Frauen von Gewaltdelikten betroffen: 249 vollendete Tötungsdelikten wurden in den Jahren 2009 bis 2018 erfasst: 74,7 Prozent davon waren Frauen und Mädchen, 25,3 Prozent Männer und Buben. Etwa jede zweite Woche stirbt eine Frau in der Schweiz, weil sie eine Frau ist. Durchschnittlich wird in der Schweiz alle zwei Wochen eine Frau ermordet, weil sie eine Frau ist. Solche Femizide werden allerdings auch in der Schweiz nicht gesondert erfasst.