Oscar-Gewinner «Another Round» Trinken ist die Losung

Von Marlène von Arx, Los Angeles

7.5.2021

Prost! Mads Mikkelsen als Geschichtslehrer Martin, der seinen Alltagstrott satthat. Er geht mit seinen Freunden deshalb der Frage nach: Was, wenn man mit 0,5 Alkohol-Promille zur Welt käme?
Prost! Mads Mikkelsen als Geschichtslehrer Martin, der seinen Alltagstrott satthat. Er geht mit seinen Freunden deshalb der Frage nach: Was, wenn man mit 0,5 Alkohol-Promille zur Welt käme?
Zentropa Entertainment

Drehen statt trauern: Weshalb der dänische Filmemacher Thomas Vinterberg nach dem Tod seiner Tochter die Dreharbeiten zum Oscar-gekrönten Film «Another Round» fortsetzte und wie ihm sein Star Mads Mikkelsen dabei half.

Von Marlène von Arx, Los Angeles

7.5.2021

Thomas Vinterberg und Mads Mikkelsen, zwei der bekanntesten Namen des dänischen Kinos, brauchten überraschenderweise eine ganze Weile, bis sie Freunde wurden. Sie starteten ihre Karrieren in den neunziger Jahren in zwei konkurrenzierende Lagern: «Festen»-Regisseur Vinterberg als Mitbegründer der avantgardistischen Dogma95-Bewegung, Mikkelsen als Muse von Nicolas Winding Refn, der ihm seine erste Rolle in «Pusher» gab.

Bis 2012 hatten sie ihre Berührungsängste aber überwunden und drehten zusammen «Die Jagd», in dem der Protagonist von einem Kind fälschlicherweise des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wird. Mikkelsen wurde für die Rolle in Cannes ausgezeichnet, der Film für einen Oscar nominiert. Inzwischen sind die beiden Nachbarn, sehen sich im Fitnessstudio, ihre Lebenspartnerinnen sind ebenfalls befreundet.

Beruflich berauschen sie sich nun mit «Drunk», auch bekannt unter dem Titel «Another Round»: Die Idee für den diesjährigen Oscar-Preisträger in der Kategorie Bester Internationaler Film holte sich Vinterberg beim norwegischen Psychiater Finn Skårderud. Dieser warf im Vorwort des Sachbuchs «Der psychologische Effekt von Wein» des Italieners Edmondo de Amicis folgende Frage auf: Was würde passieren, wenn der Mensch mit +0.5 % Alkohol im Blut geboren wäre? Vermutlich würden wir uns mit dem Dauerzustand von ein, zwei Glas Wein intus ziemlich gut fühlen und das Leben lockerer angehen, meint er.

In «Drunk» wollen vier befreundete Mittelschullehrer diese These testen. Alle auf ihre Art in der Midlife-Crisis angekommen, könnten sie einen halb-promilligen Schub im Kopf gut brauchen.

Mads Mikkelsen spielt Geschichtslehrer Martin. Seine Schüler und seine Frau fanden ihn mal cool. Jetzt fühlt er sich abgehängt. Er ist ein Zuschauer in seinem eigenen Leben geworden. Trinken bringt wieder Spannung in sein Leben. Aber wie man sich denken kann, gerät das Experiment bald ausser Kontrolle. «Wie alle Filme von Thomas ist es eine Liebeserklärung an Dänemark», schmunzelt Mads Mikkelsen im Interview. «Die Leute trinken hier zwar nicht mehr bei der Arbeit, aber wir halten immer noch Rekorde, auf die wir nicht stolz sein sollten.»

Ein tragischer Unfall

Vinterberg hat das Drehbuch eigens für Mikkelsen geschrieben: «Wir diskutieren alles vor dem Dreh schon aus», so der Regisseur und Co-Autor. «Wenn dann auf dem Set mit einer Nuance etwas nicht stimmt, brauche ich kaum mehr als zwei Worte zu sagen und Mads weiss, was ich meine. Wir kennen uns mittlerweile so gut.»

Diese Nähe war besonders hilfreich, als sich damals am 4. Mai 2019, nach vier Drehtagen eine private Tragödie ereignete: Ein abgelenkter Fahrer prallte in das Auto von Vinterbergs Ex-Frau und seiner 19-jährigen Tochter Ida. Ida starb noch auf der Unfallstelle. «Jemand schaute auf sein Handy», sagte der Filmemacher gegen die Tränen kämpfend, als er vor Kurzem den Oscar in Los Angeles entgegennahm.

Wie Vinterberg auf Anfrage erklärt, stützte ihn seine «Drunk»-Familie in der schwierigsten Zeit seines Lebens: «Wenn man bei diesem Film eine zusätzliche Verbundenheit und einen besonderen Zusammenhalt spürt, hat es damit zu tun, dass das ganze Filmteam ihr und mir nahestand und mich durch diese Zeit getragen hat.» Ida hätte im Film auch selber als eine der Schülerinnen mitspielen sollen, und es wurde gar in ihrer Schule gedreht. Sie hatte sich sehr auf das Projekt gefreut.

«Sie war gerade in Afrika, als das Drehbuch fertig war, so schickte ich es ihr dorthin», erinnert sich der Filmemacher. «Sie konnte sehr brutal sein mit ihrer Kritik, aber sie schrieb mir, dass sie sich in diesem Script gesehen vorkam. Dass sie stolz auf mich war und sich auf den Film freute. Deshalb dachte ich auch, dass wir ihn zu Ende bringen mussten.» Mads Mikkelsen und das ganze Team sahen es auch so.

«Drunk» ist ein Film über den Verlust und das Wiederfinden von Lebensfreude – und ein Denkmal für Ida. Der Film und der Oscar sind ihr gewidmet. Abgeschlossen ist die Trauerphase trotzdem nicht. Ein Kind zu verlieren, begleitet einen ein Leben lang. «Ich habe aber nicht angefangen zu trinken», versucht Vinterberg, mit etwas «Drunk»-Humor sein neues Leben erträglich zu machen. «Mein Psychiater riet mir davon ab.»

Kein Alkohol am Set

Während der Proben im Vorfeld der Dreharbeiten wurde mit Alkohol experimentiert. Aber als die erste Klappe fiel, mussten die Schauspieler nüchtern in Stimmung kommen. «Wenn man zwölf Stunden aufnahmefähig sein muss, kann man sich nicht wirklich betrinken», so Mads Mikkelsen.

Der tragische Unfall erinnerte das Filmteam jedoch daran, wie es ist, die Kontrolle zu verlieren. Dieses Gefühl und dessen Akzeptanz gipfelt schliesslich in einer ausgelassenen Tanzszene für Mikkelsen. Ein Klacks für den Schauspieler, begann doch seine Profikarriere als Tänzer: «Ich bin ein bisschen eingerostet, aber zum Glück ist ja Martin kein Ex-Profitänzer und es geht mehr um seinen emotionalen Zustand als um komplizierte Tanzschritte», so der 55-Jährige.

«Thomas wollte mit dem Tanz zeigen, dass Martin sein Leben zurückgewinnen will. Er hat gerade einen guten Freund verloren, aber vielleicht gewinnt er nun jemanden anderen zurück, den er ebenfalls liebt.» Nach dem Regen scheint die Sonne. Hoffentlich für Martin und nicht zuletzt auch für Vinterberg.

Der Oscar-Gewinnerfilm «Drunk» läuft ab heute, Donnerstag, 6. Mai, in den Kinos.