Wilfried Gnonto dominiert die Titelseiten der italienischen Sportgazetten. Der 18-jährige Stürmer vom FC Zürich ist wie aus dem Nichts zu einem Hoffnungsträger für die «Azzurri» geworden. Heute winkt ihm gegen Ungarn sogar die Startelf.
Es war ein erneuter Tiefpunkt in einem für den italienischen Fussball schrecklichen Jahr. In der «Finalissima» zwischen Europameister Italien und Copa-America-Sieger Argentinien gab es für die «Squadra Azzurra» eine schallende 0:3-Ohrfeige. Damit herrscht in Italien nicht mal ein Jahr nach dem EM-Titel die Tristesse. In der WM-Qualifikation nach einem blamablen 0:1 gegen Nordmazedonien gescheitert, die Mannschaft überaltert, die Euphorie längst verflogen.
Roberto Mancini, der Italien so überraschend zum Europameister machte, steht damit vor seiner nächsten, wohl noch grösseren Herausforderung: die Verjüngung des Kaders, der totale Umbruch. Das Problem dabei ist hausgemacht. Da Italiens Vereine nur selten auf einheimische, junge Spieler setzen, fehlt ein Phil Foden, Florian Wirtz oder Gavi.
Und dennoch hat Roberto Mancini die alte Garde, gegen Argentinien noch angeführt von Giorgio Chiellini, der sein 117. und letztes Länderspiel absolvierte, radikal verjüngt. Kein einziger Feldspieler, der noch gegen Argentinien spielte, durfte drei Tage später in der Nations League gegen Deutschland ran.
Ausgerechnet gegen Deutschland, diesen ewigen Rivalen der Italiener, sah sich Roberto Mancini gezwungen, den Neustart zu wagen. Er setzt dabei in der Startelf auf junge Spieler wie Alessandro Bastoni (23), Sandro Tonali (22), Davide Frattesi (22) oder Gianluca Scamacca (23). Sie alle machten ihre Sache gut, die Entdeckung der Partie wurde aber ein anderer, der eigentlich so gar nicht ins italienische Selbstverständnis passt. Es ist der 18-jährige Wilfried Gnonto. Weil er in Italien nirgends die Chance auf Spielpraxis erhielt, wechselte er im Sommer 2020 zum FC Zürich in die Schweiz. Dort brillierte er hauptsächlich als Joker.
Dieser Gnonto war es dann, der von Mancini in der 65. Minute an die Seitenlinie beordert wurde, einige Ratschläge bekam und sich schliesslich aufmachte, das Publikum für sich zu gewinnen. Nach nur fünf Minuten auf dem Feld entschied sich Gnonto, Thilo Kehrer mit einem schnellen Antritt stehenzulassen und den Ball perfekt halbhoch hinter die Abwehr zu spielen. Während Manuel Neuer auf den Knien umherirrte, brauchte Lorenzo Pellegrini nur noch zur italienischen Führung einzuschieben.
Zwar glich Deutschland wenig später aus, dennoch war Wilfried Gnonto der gefeierte Mann. Der bloss 1,70 Meter grosse Stürmer überzeugte mit viel Leidenschaft, Tempo und Mut. Im Stadio Renato Dall'Ara in Bologna bekam der Teenager regelmässig Szenenapplaus für seine gelungenen Aktionen. Und auch die italienischen Gazetten waren hin und weg vom Wunderkind, von dem kaum jemand zuvor gehört hat. «Ein Märchen von Gnonto» schrieb die rosarote Sportbibel «Gazzetta dello Sport» anschliessend.
Es winkt die Startaufstellung
Heute Abend trifft Italien in seinem zweiten Spiel in der Nations League in Cesena auf Ungarn, welches im ersten Spiel überraschend gegen England gewann. Die italienischen Zeitungen haben ihre Titelseiten dabei zu grossen Teilen mit Wilfried Gnonto gefüllt. «Mancini mit Gnonto in der Startaufstellung», schreibt der «Corriere dello Sport» schon mal und entschuldigt sich in einem Kommentar sogleich bei «Willy», ihm durch die Präsenz auf der Titelseite zu viel Druck aufzuerlegen.
Auch auf die Titelseite der «Gazzetta dello Sport» schaffte es Gnonto erneut, es wird dabei ebenfalls darauf hingewiesen, dass er bei «Mancinis Jungen» in der Startelf steht.
«Versuch es erneut, Willy!» Dies die Forderung der «Tuttosport», die sich ebenfalls für Gnonto auf der Titelseite entschieden hat.
Doch nicht nur in der Print-Landschaft war der Name Wilfried Gnonto ein häufig genannter. An der Pressekonferenz wurde Mancini auf seinen jungen Stürmer angesprochen und war voll des Lobes: «Nicht viele Spieler können in diesem Alter spielen wie er. Dazu hat er richtig viel Geschwindigkeit. Das ist eine Qualität, die unseren Stürmern sonst fehlt. Er hat wichtige Qualitäten, er ist ein intelligenter Spieler. Er kann besser und ein wichtiger Spieler werden.»
Zugleich warnte Mancini aber auch davor, nicht zu hohe Erwartungen zu haben: «Er muss ohne viel Druck weiter wachsen, er hat in der Nationalmannschaft erst 30 Minuten gespielt.»
Wird er zum Rekordmann?
Das Debüt von Wilfried Gnonto am Samstag war bereits historisch. In der Liste der jüngsten Debütanten der italienischen Nationalmannschaft liegt er mit 18 Jahren, sechs Monaten und 30 Tagen auf Rang elf. Wobei die Liste vor allem Spieler der 1910er- und 1920er-Jahren beinhaltet. In der Neuzeit waren bei ihren Debüts mit Gianluigi Donnarumma (2016), Giuseppe Bergomi (1982) und Davide Santon (2009) nur drei Spieler jünger.
Die jüngsten Spieler in Italiens Nationalmannschaft
- 1. Rodolfo Gavinelli
Debüt 1911 mit 16 Jahren, drei Monaten und acht Tagen - 2. Renzo De Vecchi
Debüt 1910 mit 16 Jahren, drei Monaten und 23 Tagen - 3. Gianluigi Donnarumma
Debüt 2016 mit 17 Jahren, sechs Monaten und sieben Tagen - 4. Luigi Barbesino
Debüt 1912 mit 18 Jahren und zwei Monaten - 5. Giuseppe Bergomi
Debüt 1982 mit 18 Jahren, drei Monaten und 23 Tagen - 6. Davide Santon
Debüt 2009 mit 18 Jahren, fünf Monaten und vier Tagen - 7. Virginio Rosetta
Debüt 1920 mit 18 Jahren, sechs Monaten und sieben Tagen - 8. Piero Campelli
Debüt 1912 mit 18 Jahren, sechs Monaten und neun Tagen - 9. Claudio Casanova
Debüt 1914 mit 18 Jahren, sechs Monaten und 26 Tagen - 10. Giovanni Vincenzi
Debüt 1924 mit 18 Jahren, sechs Monaten und 30 Tagen - 11. Wilfried Gnonto
Debüt 2022 mit 18 Jahren, sechs Monaten und 30 Tagen
Bei den Spielen heute gegen Ungarn, am Samstag gegen England oder am kommenden Dienstag gegen Deutschland hat Gnonto zudem die Chance, sich definitiv in den Geschichtsbüchern des italienischen Fussballs zu verewigen. Er könnte nämlich zum jüngsten Torschützen der Geschichte der «Squadra Azzurra» werden.
Dieser Titel gehört momentan Bruno Nicolè, der 1958 mit 18 Jahren, acht Monaten und 16 Tagen in einem Freundschaftsspiel gegen Frankreich gleich doppelt traf (und danach nie wieder). Der jüngste Torschütze in einem Pflichtspiel heisst Moise Kean. Der Stürmer von Juventus Turin traf 2019 mit 19 Jahren und 23 Tagen.
Gut möglich, dass Gnonto diese Bestmarken in den kommenden Tagen übertrifft. In Italien hoffen sie es. Schliesslich ist Wilfried Gnonto in einem tristen italienischen Fussballjahr zum personifizierten Hoffnungsschimmer geworden.