Einschneidende Erlebnisberichte Nackt und tagelang festgebunden – bedenkliche Zustände in Psychiatrien aufgedeckt

tbz

3.5.2024

Immer wieder kommt es in Psychiatrien zu Zwangsmassnahmen – wie verhältnismässig sind diese? (Symbolbild)
Immer wieder kommt es in Psychiatrien zu Zwangsmassnahmen – wie verhältnismässig sind diese? (Symbolbild)
Bild: Keystone

Wie eine Reportage von SRF-Investigativ zeigt, stossen psychiatrische Anstalten in der Schweiz zunehmend an ihre Grenzen. Bedenkliche Erlebnisberichte verdeutlichen, wie hinter verschlossenen Türen die Grenze zwischen Hilfeleistung und Freiheitsberaubung zu verschwimmen droht.

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Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Eine Reportage von SRF-Investigativ zeigt bedenkliche Zustände in mehreren psychiatrischen Kliniken der Schweiz auf.
  • In zwei Kliniken, dem Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) und der Luzerner Psychiatrie (LUPS), wurden Patienten Opfer von drastischen Zwangsmassnahmen.
  • Ein Rechtsexperte sieht dabei gegenüber SRF klare Verstösse gegen das Gesetz. 
  • Die Kliniken beklagen die steigende Anzahl Patient*innen und akuten Personalmangel.

Sechs Tage ans Bett fixiert, in einem Isolationsraum eingesperrt oder mit abgeschnittenen Haaren nackt an die Matratze gefesselt. Was sich nach einem perfiden Horrorfilm anhört, ist in zwei psychiatrischen Kliniken in der Schweiz tatsächlich passiert. Das deckt SRF-Investigativ in einer Reportage auf.

Betroffen sind das Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) und die Luzerner Psychiatrie (LUPS). Vieles deutet aber auf ein branchenweites Problem hin – ist die Schweizer Psychiatrie am Anschlag?

Der Fall Münsingen

SRF-Investigativ widmet sich dem Problem anhand verschiedener Fallbeispiele in einem halbstündigen Youtube-Clip. Eines davon ist der Erfahrungsbericht von «Chrigu», der eigentlich anders heisst. Er lässt sich im August 2023 selbst ins Psychiatriezentrum Münsingen einweisen, weil er einen psychischen Zusammenbruch erlebt. Aus seiner Klinikakte zitiert SRF, dass er trinkt, Drogen konsumiert und zu Gewaltausbrüchen neigt. Er leidet unter einer psychotischen Störung, hat Verfolgungswahn und hört Stimmen.

Am vierten Tag in der Klinik eskaliert die Situation. Als er auf ein Medikament warten muss, wird er aggressiv und von einem Pfleger nach draussen geschickt. Kurz darauf kehrt er mit einem langen Holzbrett zurück und schlägt auf die Eingangstür der Station ein. Die Pflege ruft die Polizei, Personal und die Patient*innen schliessen sich zum Schutz vor Chrigu in den Zimmern ein.

Die Klinik schätzt den Gewaltausbruch als «lebensbedrohlich» für Personal und Mitpatient*innen ein. Es sei unumgänglich, restriktive Massnahmen durchzuführen, steht in der Akte. Als die Polizei kommt, werden Chrigu Handschellen angelegt und ihm wird ein beruhigendes Medikament verabreicht. Im Folgenden steht geschrieben, dass der 18-Jährige «aufgrund fremdaggressiven Verhaltens in ein Isolationszimmer verlegt und fixiert» wird. Dort werden ihm weitere Medikamente verabreicht.

Sechs Tage ans Bett gefesselt

Damit werden bei Chrigu drei Zwangsmassnahmen gleichzeitig angewendet: die körperliche Fixierung, die Isolation und die Zwangsmedikation. Diese dürfen in einer Psychiatrie nur dann eingesetzt werden, wenn eine akute Krise besteht und die Person sich selbst oder andere in Gefahr bringt. Allerdings gilt dabei der Grundsatz, dass eine Zwangsmassnahme immer das letzte Mittel sein soll und damit so schnell wie möglich wieder aufgehört wird. Laut Kliniken und Pflegefachleuten, die SRF befragt, dauern solche Massnahmen in der Regel «ein paar Stunden».

Im Fall von Münsingen dauern sie sechs Tage.

«Ich war durch die Medikamente die ganze Zeit über wie benebelt und konnte mich nicht mehr artikulieren. Das war sehr hart», erzählt Chrigu, der Verständnis für die Massnahme hat, nicht aber für deren Dauer. Nur für Toiletten-Pausen befreit das Personal den 18-Jährigen von seinen Fesseln. Einen Tag nach Auflösung der Zwangsmassnahmen wird er aus der Klinik entlassen.

Gemäss dem von SRF-Investigativ hinzugezogenen Rechtsexperten Jürg Gassmann ist der Fall «Chrigu» in mehreren Bereichen fragwürdig. Zum einen dauerte die Fixierung mit sechs Tagen aussergewöhnlich lange. Zudem hätte die Notwendigkeit der Massnahme alle paar Stunden wieder neu überprüft werden sollen. Ob und inwiefern eine solche Beurteilung stattfinden kann, während der Patient sich nicht mehr richtig artikulieren kann, geht aus dem SRF-Bericht nicht hervor.

Die Entlassung des Patienten nur einen Tag nachdem er noch als so gefährlich eingeschätzt worden war, dass er unter Medikamenten in einem Zimmer isoliert und ans Bett fixiert werden musste, entbehrt gemäss Gassmann «jeglicher Logik».

«Dort T-Shirt und Slip ...»

In einem zweiten Fallbeispiel erzählt Nadja – auch sie heisst eigentlich anders – ihre Geschichte. Die 23-Jährige hat seit ihrer Kindheit psychische Probleme, leidet unter anderem an Depressionen und einer Borderline-Störung. Auch sie geht im Sommer 2023 freiwillig in eine Klinik, in diesem Fall in die Luzerner Psychiatrie, und auch bei ihr verläuft zunächst alles den Umständen entsprechend normal.

Bei Nadja dauert es eine Woche, bis die Situation kippt. Sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Nach einem mehrstündigen Spitalaufenthalt wird die 23-Jährige von Polizei und Sanität zurück in die Psychiatrie gebracht. Was dann passiert, wird in der Akte wie folgt beschrieben.

«Sie wurde ins Intensivzimmer verlegt, wie verordnet. Dort T-Shirt und Slip ...» Dann hört der Satz abrupt auf. Was das bedeutet, beschreibt Nadja gegenüber SRF folgendermassen: «Ich sagte mehrmals, dass ich nicht in das Zimmer wollte, dass ich Angst davor habe. Sie haben mich dann nackt ausgezogen, was ich nicht wollte. Aus diesem Grund schnitten sie mir das T-Shirt und die Unterhose auf.»

Gemäss SRF sei es in Kliniken Standard, dass bei Patient*innen in Intensivzimmern die Kleidung gewechselt würde, damit sie sich nicht selbst verletzen können. Im Fall von Nadja gab es aber keine Ersatzkleidung, sie blieb nackt.

Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung? Hier findest du Hilfe:

«Eine krasse Verletzung der Grundrechte»

Weil sie daraufhin gemäss Akte versuchte, sich mit ihren eigenen Haaren zu strangulieren, wurden weitere Massnahmen ergriffen. «Sie kamen sofort wieder rein. Die Polizisten drückten mich an die Wand. Es waren Männer dabei und ich war immer noch splitternackt. Sie hielten mich dann auf der Matratze fest und schnitten mir die Haare ab.» Anschliessend wird Nadja nackt auf der Matratze festgebunden. Einen Tag später wird auch sie entlassen.

SRF-Rechtsexperte Gassmann spricht im Fall Nadja von einer «krassen Verletzung der Grundrechte». Insbesondere, dass die Patientin nackt ausgezogen wurde, sei ein Verstoss gegen das Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.

Besonders heikel sei der Fall, weil sich Nadja freiwillig in der Klinik aufhielt. «Bei freiwilligen Patientinnen und Patienten ist es generell verboten, Zwangsmassnahmen durchzuführen.» Anders als im Fall Münsingen, wo eine Ärztin am Tag der Eskalation einen Rückbehalt für Chrigu ausstellte, durch den der 18-Jährige quasi an Ort und Stelle zwangseingewiesen wurde, geschah dies in Luzern nicht. «Was die Luzerner Psychiatrie machte, ist unter diesem Aspekt krass widerrechtlich», so Gassmann.

Suizid-Gedanken? Hier findest du Hilfe:

  • Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und für ihr Umfeld da.
  • Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Telefonnummer 143 oder www.143.ch
  • Beratungstelefon Pro Juventute (für Kinder und Jugendliche): Telefonnummer 147 oder www.147.ch
  • Weitere Adressen und Informationen: www.reden-kann-retten.ch
  • Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben:

    Refugium: Verein für Hinterbliebene nach Suizid

    Nebelmeer: Perspektiven nach dem Suizid eines Elternteils

Steigende Anzahl Patient*innen und akuter Personalmangel

Gemäss SRF wurden in der Schweiz 2022 insgesamt 18’367 Personen in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Jede/r vierte Patient*in ist gegen den eigenen Willen dort. Diese Zahlen steigen jedes Jahr. Damit liegt die Schweiz im europäischen Vergleich auf einem Spitzenplatz.

Während der Patient*innen-Behandlung wurden im Jahr 2022 insgesamt 36’119 Zwangsmassnahmen durchgeführt. Im Schnitt erfährt jede zehnte Person, die in einer psychiatrischen Klinik behandelt wird, eine Zwangsmassnahme. Diese Zahlen werden laut SRF von den Anstalten selbst erhoben.

Die beiden Kliniken aus Münsingen und Luzern wollen gegenüber SRF keine Stellung in Bezug auf die Fälle von Nadja und Chrigu nehmen. Sie berufen sich auf die ärztliche Schweigepflicht. In einer allgemeinen Stellungnahme beklagen sie aber die landesweit steigende Anzahl zwangseingewiesener Patienten, das fehlende Verständnis der Bevölkerung gegenüber psychisch kranken Personen, was deren Situation zusätzlich negativ beeinflusse und akuten Personalmangel.

Bezüglich Zwangsmassnahmen schreibt das PZM: «Zwangsmassnahmen kommen auf den Akutstationen des PZM nur als Ultima Ratio zur Anwendung. Denn sie sind für die betroffenen Patient:innen einschneidend und können starke Gefühle von Angst und Ohnmacht auslösen. Sie stellen auch für die Mitarbeitenden eine grosse emotionale Belastung dar und fordern das interprofessionelle Stationsteam stark heraus. Die Betreuung im Rahmen von Zwangsmassnahmen ist zudem personalintensiv.»

Mehrtägige Fixierungen, wie im Fall von Chrigu, gäbe es nur selten. «Zwangsmassnahmen werden so kurz wie möglich und so lange wie zwingend nötig durchgeführt.»

Die Luzerner Psychiatrie, in der sich Nadjas Erfahrungsbericht abspielte, erklärt sich wie folgt: «Bei Eintritt in eine unserer Kliniken erstellen wir zusammen mit den Betroffenen einen Behandlungsplan mit Zielen und Massnahmen, was die Betroffenen während des Aufenthalts erreichen möchten. Die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen haben während der ganzen Behandlung den grössten Stellenwert. Wir unterstützen und beraten mit unserer fachlichen Expertise.»

Weiter heisst es: «Eine Verlegung ins Intensivzimmer oder gar Fixierung führen wir als letzte mögliche Massnahme durch. Bei vitaler und akuter Gefährdung unserer Patientinnen und Patienten sind wir verpflichtet, die erforderlichen medizinischen Massnahmen umgehend vorzunehmen. Dies kann z.B. eine bewegungseinschränkende Massnahme zum Selbstschutz der Patientinnen und Patienten sein, dies kann in seltenen Fällen ein Herauslösen aus Kleidungsstücken oder Haaren zur Beendigung einer laufenden Selbststrangulation mit Anwendung der vorgenannten Mittel sein. Würden solche Massnahmen nicht ergriffen, wäre die Pflicht zum Schutz unserer Patientinnen und Patienten verletzt.»

Die vollständigen Stellungnahmen sind bei SRF ersichtlich.

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