«Dr. Tinder» zur Ära der Onlinedating-Erschöpfung «Wir finden Dating-Apps nicht mehr so aufregend wie früher»

Von Vanessa Büchel

16.3.2024

Daten wir wieder mehr offline? Aktuell herrscht laut der Expertin Johanna Degen eine allgemeine Onlinedating-Fatigue. 
Daten wir wieder mehr offline? Aktuell herrscht laut der Expertin Johanna Degen eine allgemeine Onlinedating-Fatigue. 
Unsplash/markuswinkler

Wir sind erschöpft. Zumindest in Sachen Onlinedating. Nach vielen Jahren des Swipens wollen wir nicht mehr, können uns aber trotzdem nicht lösen. Sozialpsychologin Johanna Degen forscht seit Jahren zu Dating-Apps und erklärt blue News im Interview, woher diese Onlinedating-Fatigue rührt.

Von Vanessa Büchel

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • 50 Prozent der Paare, die sich in den letzten fünf Jahren gefunden haben, lernten sich online kennen.
  • Doch viele Onlinedatende suchen weiter und weiter nach ihrem Happy End.
  • Die anfängliche positive Wahrnehmung von Tinder und Co. ist einer Erschöpfung gewichen. 
  • Sozialpsychologin Johanna Degen forscht seit Jahren zu Dating-Apps.
  • «Dr. Tinder» erklärt blue News im Interview, woher diese allgemeine Fatigue zum Daten auf Apps rührt.

Die potenzielle Liebe ist nur einen Swipe weg. Seit es Dating-Apps gibt, ist Kennenlernen bequemer geworden – und die Auswahl haben wir immer gleich mit dabei: Denn auf dem Handy warten unzählige Möglichkeiten und die etwaige Traumfrau oder der eventuelle Traummann ist nur einen Wisch weg. Wir sammeln endlos Matches, geben uns nie zufrieden und sind davon getrieben, immer noch jemand Besseren zu finden. 

Was aus dem ständigen Swipen und der endlosen Suche in der Zeit des mobilen Onlinedatings resultiert? Eine Erschöpfung, die frustriert. Geschaffen von verkehrten Erwartungshaltungen oder einer kollektiven Depression? 

Sozialpsychologin Johanna Degen forscht seit 2017 zu mobilen Dating-Apps. «Dr. Tinder» – wie die Paartherapeutin von den Studierenden an der Universität Flensburg, Deutschland, genannt wird – ist überzeugt, dass Onlinedating heute nicht mehr so prickelnd ist wie früher. Wir ordnen Apps keine grosse Chancen mehr zu, können uns aber trotzdem nicht lösen. Was der Weg aus diesem Teufelskreis bringt, erklärt Degen im Interview. 

Frau Degen alias «Dr. Tinder», wie würden Sie Dating in der heutigen Zeit mit nur drei Worten beschreiben?
Verletzendes kollektives Missverständnis. Denn das Datingverhalten, das wir uns angewöhnt haben, kommt nicht etwa von den Apps, sondern ist mehr ein kollektives Missverständnis.

Ein kollektives Missverständnis?
Ja, denn obwohl wir alle beim Onlinedating eine gute Zeit haben wollen, verletzen wir uns reihenweise, üben das Schlussmachen und trainieren Unverbindlichkeit. Wir haben einen sehr misstrauischen Blick auf die anderen, haben mitunter schlechte Dates, wenig erfüllenden Sex und sehr wenig intime Begegnungen, obwohl wir uns das eigentlich wünschen. Das Ganze ist also ein bisschen ein Absurdum. Man könnte auch sagen: Da ist der Wurm drin – das wären dann aber vier Worte (lacht).

Wie hat sich das heutige Datingverhalten zu früher verändert?
Wir befinden uns in der Ära des Onlinedatings und daten generell nach anderen Prinzipien. Lange Zeit waren wir überzeugt, dass sich mobiles Onlinedating von Offlinedating unterscheidet, aber dem ist nicht so. Es haben sich generell unsere Einstellungen im Hinblick auf Quantifizierung, Parallelität oder «Low Cost» verändert. Dates sollen heute so wenig wie möglich kosten – emotional, zeitlich als auch monetär gesehen.

Und am besten unverbindlich sein?
Diese neue Unverbindlichkeit kommt nicht von Dating-Apps, sondern ist meiner Meinung nach eine neoliberale Verseuchung. Wir ghosten nicht nur unsere Dates, sondern tun das auch bei unserem Therapeuten oder Arbeitgeber, anstatt zu kündigen. Wir wissen, dass wir uns auf niemanden sonst als uns selbst verlassen können. Nicht auf den Staat und auch nicht auf den Arbeitgeber. Das erschüttert uns als soziales Selbst und ist auch im Dating sowie in Ehen so. Und dann ist da noch die Möglichkeit, dass eine Beziehung jederzeit in die Brüche gehen kann. Vor diesem Hintergrund und mit diesem Gewissen führen wir heute unsere Beziehungen.

Haben sich demnach auch unsere Erwartungshaltungen beim Onlinedating verändert?
Die Erwartungshaltungen sind grundsätzlich negativ. Denn wir unterstellen uns gegenseitig das Schlechteste, erwarten relativ wenig vom Gegenüber und antizipieren Enttäuschung. Eigentlich finden wir Dating per App blöd, die anderen sind langweilig und alle Nachrichten oberflächlich, aber trotzdem tun wir es. Man könnte von einer «Tinder-Erschöpfung» sprechen. 

Stichwort Erschöpfung. Momentan ist häufig gar die Rede von einem Onlinedating-Burn-out. 
So ist es, wir befinden uns aktuell sozusagen im Zeitalter der Onlinedating-Fatigue. Wir sind in einem Erschöpfungszustand angekommen, finden Onlinedating nicht mehr so super aufregend wie zu den Anfangszeiten und sehen es nicht mehr als grosse Chance.

Heisst das, der Trend geht wieder zurück zum Offlinedating?
Dass Onlinedatende erschöpft sind, heisst nicht, dass sie andere Möglichkeiten haben. Denn es bleibt nach wie vor so, dass der öffentliche Raum nicht als Alternative wahrgenommen wird. Während man früher noch neugierig auf Datingapps war, herrscht jetzt generell eine eher skeptischere und negativere Haltung, aber dennoch bleibt man dabei. 

Dr. Johanna Degen
Dr. Johanna Degen forscht seit Jahren zu Dating-Apps. (Kath Konopka)

Johanna Degen ist Sozialpsychologin, Paartherapeutin und forscht seit 2017 an der Universität Flensburg, Deutschland, zu mobilen Dating-Applikationen. Sie weiss, inwiefern sich das Verhalten der Userinnen und User verhalten hat und woher die aktuell herrschende Onlinedating-Fatigue rührt. Von den Studierenden wird sie liebevoll «Dr. Tinder» genannt. Mit «Swipe, like, love» erscheint im Psychosozial-Verlag voraussichtlich im April Degens Studie, für die sie Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter untersucht hat.

Woher rührt denn diese allgemeine Erschöpfung überhaupt?
Das hat viele Gründe. Weil man einfach mehr online als offline ist und sich auf den Apps schlecht behandelt fühlt. Man könnte jederzeit geghostet werden, Matches bedeuten wenig, Unterhaltungen sind oberflächlich und Userinnen sowie User erleben sich selbst entfremdet, weil sie die anderen nicht nach dem eigenen Ideal behandeln. Wir sind kein Teil davon, eine Welt zu schaffen, in der Beziehung, Sex und Dating etwas Schönes sind. Das frustriert, führt zu Dissonanzen und auch zu einer ständigen Enttäuschung, in der man von anderen nur noch das Schlechteste erwartet. 

Wie wirkt sich die aktuelle Weltlage aufs Onlinedating aus – hat sie einen Einfluss darauf?
Oh ja, Ängste aufgrund der Pandemie, Kriegszustände oder finanziellen Lagen sowie Berufsaussichten haben einen starken Einfluss. Wir befinden uns generell in einem eher dystopen Zustand, würde ich sagen.

Lassen wir mal die negativen Aspekte des Onlinedatings beiseite. Es gibt auch Paare, die sich per App gefunden haben. Was braucht es für solche Happy Ends?
Paare, die sich online gefunden haben, nennen wir urbane Mythen. Es ist tatsächlich so, dass wir generell viel mehr über Apps daten und knappe 50 Prozent der Paare, die sich in den letzten fünf Jahre gebildet haben, sind Dating-App-Paare. Es gibt sie durchaus – die grossen Happy Ends mit Tinder-Babys oder -Hochzeiten. Doch das heisst nicht, dass wir nicht eine Krise der Begegnung und Beziehung haben.

Was hat das zu bedeuten?
Auch in den Beziehungen, die sich abseits vom Onlinedating bilden, gibt es eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Einerseits erwarten wir nichts mehr von der Liebe, andererseits überhöhen wir sie. Sie soll das ausgleichen, was wir im Leben kaum noch bekommen – nämlich das sogenannte Sinnerleben oder die Rettung vor der Tristesse des Alltags. Dating-Apps sind Teil davon. Sie werden uns zwar nicht retten können, aber geben uns Aussichten. Und am Ende schreiben uns Datings-Apps ja nicht vor, schlechte Chats zu führen oder unaufgefordert Dickpics zu verschicken. Das alles machen wir selbst. Das Happy End liegt also in einer angeeigneten Nutzung, in der man die Oberhand wieder zurückgewinnt.


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