Transgender, Teil 2«Ich verstehe euch nicht. Ich komme aus euch nicht draus»
Von Bruno Bötschi
17.6.2022
Schon als Kind fühlten sich Jenny, Lena und Nadia anders, sie fühlten sich nicht als Buben. Ein Gespräch in zwei Teilen über verbale Verletzungen im Alltag, die hohe Suizidrate und berühmte Transfrauen.
Der erste Teil des Gesprächs kann hier gelesen werden.
Jenny, Lena und Nadia, vergangenen Sommer waren wir zusammen mit einigen Freundinnen und Freunden auf einer Schifffahrt. Während unseres Ausflugs kam es zu einer unschönen Situation.
Alle:(Schweigen)
Ich rede von dem Moment, als eine Person aus unserer Runde sagte: «Ach, ihr Verkleideten!» Was löste diese Bemerkung bei Ihnen aus?
Lena: Persönlich hat mich die Aussage nicht betroffen gemacht. Obwohl sie unerwartet und plötzlich im Raum stand – und zudem von einem Menschen kam, den ich bis dahin als offen eingeschätzt hatte.
Nadia: Die Aussage hat mich schockiert, aber persönlich getroffen hat sie mich nicht. Denn mir war sofort klar, dieser Mensch schadet sich nur selber. Und ich fragte mich: Ist diese Person derart unsensibel, dass sie nicht spürt, dass diese Bemerkung in unserer Gruppe absolut unpassend ist? Dieser Mensch sackte in meiner Sympathie-Skala von einer Sekunde zur anderen ganz tief ins Minus.
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Jenny: Das geht natürlich nicht. Aber ich habe mich zurückgenommen, weil es eine Reise mit Freundinnen und Freunden war und ich die Situation nicht eskalieren lassen wollte. Aber angebrachter wäre es gewesen, die Person anzusprechen, auf Ihr respektloses Verhalten hinzuweisen und nach Ihrem Problem zu fragen. Es hätte mich nicht gestört, wenn diese Person direkt in die Runde gefragt hätte: «Ich verstehe euch nicht. Ich komme aus euch nicht draus, erklärt mir das doch bitte einmal.»
In der Folge habe ich die Person zurechtgewiesen, ihr gesagt, dass so eine Bemerkung absolut fehl am Platz und sehr verletzend sei.
Lena: Über diesen Einwand war ich sehr froh. Ich fand zudem gut, dass wir danach über diese abschätzige Aussage diskutiert haben.
Jenny: Aus Erfahrung weiss ich, dass sich aus solchen Situationen oft Gespräche ergeben, bei dem Verständnis entsteht. Handelt es sich hingegen um eine verbale Attacke, also jemand will nur Dampf ablassen und verletzen, was fremd ist, dann wird es schwierig und tut weh, weil ich mich in so einer Situation nicht adäquat wehren kann.
Wie gehen Sie im Alltag mit verbalen Verletzungen um?
Lena: Früher hat es mich extrem verletzt, wenn mir jemand in einem Restaurant oder auf der Strasse etwas Abschätziges nachgerufen hat. Das hatte aber auch damit zu tun, dass ich mich damals noch unsicher fühlte und nicht genau wusste, wer ich bin. Heute denke ich meistens: Wenn eine Person so dumm und intolerant ist, lohnt es sich nicht, dass ich mich über ihre dummen Äusserungen ärgere.
So grundsätzlich: Wie erleben Sie die Situation von Transmenschen heute in der Schweiz?
Nadia: Wir leben Gott sei Dank in Zürich, einer toleranten Stadt. Boshafte Reaktionen gegenüber Transmenschen kommen hier heute glücklicherweise nur selten vor.
Jenny: Leider passieren aber auch in Zürich immer wieder Übergriffe. Letzten Sommer wurde etwa ein bewilligter Stand von Trans-Aktivistinnen beschädigt. Das geht gar nicht.
Lena: Es gibt aber auch schöne Erlebnisse. Kürzlich war ich bei einem befreundeten Ehepaar, dass Kinder hat, zu Besuch. Nachdem mich das Paar eingeladen hatte, fragte ich: «Kann ich als Lena kommen?»
Und wie lautete die Antwort des Paares?
Lena: «Unbedingt! Dann lernen unsere Kinder schon von klein auf, dass es auch Transmenschen gibt.» Das fand ich wunderbar.
Was auffällt: Bei Transmenschen wird viel rascher die Intimsphäre verletzt. Sie werden fast genötigt, über ihre Genitalien und eventuelle Operationen Auskunft zu geben.
Lena: Das stimmt leider – genauso wie wir ständig über unser sexuelles Verhalten ausgefragt werden. Auch das geht niemanden etwas an und schon gar nicht eine Person, die ich nicht wirklich gut kenne.
Nadia: Wenn überhaupt, würde ich diese Themen nur mit meinen allerengsten Freundinnen und Freunden besprechen.
Lena: Ach, es ist doch schon lange klar: Die Identität eines Menschen wird nicht durch seine äusseren Geschlechtsmerkmale definiert.
Jenny: Ich halte mich da gern an den Psychologen Udo Rauchfleisch. Er sagte einmal während eines Vortrages, dass die Aussage «Erst wenn du ganz angeglichen bist, ist es ganz richtig» eine längst vergangene Sichtweise sei, die absolut nicht stimmt. Man weiss heute, dass ein Mensch sich nicht erst nach geschlechtsangleichenden Operationen als Frau fühlen kann. Wichtig ist allein, dass es sich für den einzelnen Menschen als richtig anfühlt.
Verstärkt sensibilisiert für die Trans-Thematik wurde die Öffentlichkeit mit dem Outing von Caitlyn Jenner 2015 als Transfrau. Frau Jenner war einst als Bruce Jenner Olympiasieger im Zehnkampf geworden und ist heute als Mitglied des Kardashian-Clans in den USA ein TV-Star. Was bedeutete dieses Outing für Sie persönlich?
Nadia: Das war eine starke Message. Viele US-amerikanischen Bundesstaaten sind hinsichtlich der Transgender-Rechte der Schweiz weit voraus. Was wohl auch damit zu tun hat, dass die Amis ein grösseres Faible für Glanz und Glamour haben. In der Schweiz gab es jedoch ein Ereignis, das uns Transmenschen viel Aufmerksamkeit gebracht hat.
Welches?
Nadia: Die Berner Transsexuelle Coco – der Dokumentarfilm über sie, welche das Schweizer Fernsehen 1991 zeigte, machte das Thema «trans» schweizweit bekannt und sorgte für Diskussionen.
Lena: Coco war hierzulande die erste berühmte Transfrau, ihr Leben war teilweise auch für mich eine Inspirationsquelle.
Heute gewinnen Frauen mit Bart Gesangswettbewerbe (Conchita Wurst). Serienhelden spielen transsexuelle Familienväter («Transparent»). Und mittlerweile gibt es sogar Kinderromane («George») zum Thema. Sichtbarkeit heisst aber noch lange nicht Akzeptanz.
Jenny: Sorry, aber für mich gehören Jenner und Co. zur High-Society. Wir hingegen sind einfach Menschen, die normal leben wollen. Für mich persönlich zählt viel mehr, dass wir letztes Jahr «50 Jahre Stonewall» feiern konnten. In New York hat sich 1969 erstmals eine Gruppe von Transmenschen, Lesben und Homosexuellen, die systematisch diskriminiert wurden, einer Razzia widersetzt. Deshalb wird das Ereignis von der Lesben- und Schwulenbewegung als Wendepunkt im Kampf für Gleichbehandlung und Anerkennung angesehen. Der Kampf wurde wesentlich von Transmenschen angeführt – unter anderem von Sylvia Rivera und Marsha P. Johnson.
Lena: Du hast recht, Jenny. Gleichzeitig will ich im Zeitalter der sozialen Medien die Geschichte von Bruce respektive Caitlyn Jenner nicht kleinreden. Es ist einfach toll, wenn eine solche Person hinsteht und ihren Followerinnen und Followern auf Instagram und Co. sagt: «Ich bin so, wie ich bin, und es gibt noch viel mehr Menschen, die so sind wie ich.»
Nadia: Ich finde auch, dass Caitlyn Jenner durchaus Vorbild sein kann. Genauso wie ich es toll finde, dass heute Transmenschen in Filmen von wunderbaren Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt werden, die selber trans sind.
Und trotzdem: Es passiert auch heute noch, dass Menschen, die in einer Transition sind, den Job verlieren.
Nadia: Das stimmt, aber die meisten kommen zum Glück ohne grössere Probleme durch. Und manchmal liegt es auch weniger am Umfeld als an der Person selber, dass es zu Problemen kommt.
Wie meinen Sie das?
Nadia: Ich habe schon erlebt, dass sich Menschen während ihrer Transition wie ein Elefant im Porzellanladen benommen haben.
Ich nehme an, unter den Transmenschen gibt es genau gleich viel komplizierte Menschen wie in allen anderen Gesellschaftsgruppen auch.
Nadia: Das sehe ich auch so.
Lena: Ja, was wahrscheinlich auch damit zu tun hat, dass es, wie bei CIS-Menschen, ganz unterschiedliche Transmenschen gibt. Transsein kennt keine berufliche oder soziale Komponente. Ich begegne immer wieder Transmenschen, mit denen mich, ausser das Transsein, nichts wirklich verbindet. Was ich aber nicht weiter schlimm finde.
Eine vom «Transgender Network Switzerland» (TGNS) durchgeführte Befragung aus dem Jahre 2012 zeigte Erschreckendes: Die Suizidrate soll bei Transmenschen 40 Mal höher als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegen.
Lena: Diese unschöne Zahl verwundert mich ehrlich gesagt nicht. Wenn man als Mensch durch das «normale Raster» der Gesellschaft fällt, kann es schwierig werden – und bei einem Transmenschen besonders. Wer familiär und beruflich plötzlich auf Ablehnung stösst, fängt früher oder später an zu hadern, bis sie oder er nicht mehr weiss, wie es weitergehen soll.
Hatten Sie auch solche Gedanken?
Jenny: Ich denke, jeder Mensch erlebt Momente, die schwer auszuhalten sind. Bei mir persönlich hat sich eher mehr Energie entwickelt. Energie, auf die ich zurückgreifen konnte, wenn die Lebensumstände drohten, schwierig zu werden. In solchen Momenten war ich froh, dass es das TGNS oder das Gesundheitszentrum Checkpoint in Zürich gibt. Ich wusste, da bin ich mit meinen Anliegen nicht allein. Da gibt es noch andere Menschen, denen es ähnlich geht und mit denen ich mich austauschen kann. Ich rate allen dringend, sich in solchen Situationen professionelle Hilfe zu holen.
Mit der Transition – dem Übergang vom Leben in einem Geschlecht zu einem anderen –, wird oft auch die Partnerschaft und die Familie von Transmenschen belastet.
Nadia: Es stimmt, wenn man in einer klassischen Mann-Frau-Partnerschaft gelebt hat, muss man damit rechnen, dass die Partnerschaft dies wohl nicht übersteht.
Jenny: Es gibt aber auch Partnerschaften, die halten. Doch das ist eher die Ausnahme.
Lena: Ich hatte zwei Partnerinnen, mit denen ich auch zusammenwohnte. Beide wussten, dass ich eine Transfrau bin. Das war schwierig, aber gleichzeitig auch inspirierend. Meine letzte Partnerin sträubte sich anfänglich dagegen, doch als ich eines Abends als Lena nach Hause kam und sie bereits im Bett lag, sagte sie: «Geh dich nicht abschminken, ich will jetzt Sex mit Lena.» Das war für uns beide eine neue emotionale Erfahrung.
Immer wieder ist zu lesen: Trans ist im Trend. Transgender-Ikone Laverne Cox sagte jedoch in einem «Spiegel»-Interview: «Allgemein habe ich ein Problem mit sogenannten Trends: Vielfalt sollte kein Trend sein, Gleichheit und Gerechtigkeit sollten keine Trends sein.»
Nadia: Diese Aussage würde ich sofort unterschreiben.
Jenny: Wir Transmenschen sind vielleicht aus der Optik eines Otto Normalverbrauchers etwas exotisch, aber ein Trend sind wir nicht. Wir sorgen vielmehr dafür, dass in der Gesellschaft eine nötige Öffnung stattfindet.
Was ist das häufigste Anliegen von Transmenschen?
Lena: Wahrgenommen zu werden.
Jenny: Akzeptanz ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommt …
Nadia: … und dass wir so leben können, wie wir wollen.
Haben Sie Tipps für Menschen, die auch spüren, dass Sie im falschen Körper leben ...
Jenny: ... Stop, so können Sie die Frage nicht stellen, ich lebe nicht «im falschen Körper».
Entschuldigung, wie würden Sie die Frage stellen?
Jenny: Haben Sie Tipps für Menschen, die wie Sie empfinden, aber nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen?
Und wie lauten Ihre Tipps?
Jenny: Hilfe und Beratung gibt es, wie schon erwähnt, beim TGNS und beim Checkpoint. Das TGNS organisiert auch regelmässig Gleichgesinnte-Treffen. Wichtig ist zudem: Mut fassen, sichtbar werden – und unbedingt lernen, sich zu formulieren.
Nadia: Ein Transmensch soll unbedingt seinen Bedürfnissen nachgehen und sich darüber klar werden, was einem guttut. Ja, es gibt tolle Beratungsstellen, das TGNS hat auch mir immer wieder geholfen.
Lena: Meine Erfahrung ist: Sehr oft stehen wir Menschen uns selber im Weg.
Wie meinen Sie das?
Lena: Wir machen uns alle oft viel zu viele Gedanken, was und wie die anderen Menschen denken und reagieren. Wir orientieren uns am Druck der Gesellschaft. Wenn wir uns aber von unseren Barrieren befreien, erleben wir plötzlich Akzeptanz, wo wir keine erwartet hatten und sehen, wie neue Wege und Türen aufgehen.
Der erste Teil des Gesprächs kann hier gelesen werden.