«Verräter» rechnet mit Jelzin ab Nawalny-Team entfacht mit Film Streit über Russlands 90er-Jahre

Von Hannah Wagner, dpa

28.4.2024 - 00:00

Die Polizei verhaftet Alexej Nawalny einen Tag nach Putins Amtseinführung im Jahr 2012. Nach dem Tod des Kreml-Kritikers setzt sein Team seine Arbeit fort.
Die Polizei verhaftet Alexej Nawalny einen Tag nach Putins Amtseinführung im Jahr 2012. Nach dem Tod des Kreml-Kritikers setzt sein Team seine Arbeit fort.
Archivbild: Sergey Ponomarev/AP

Rund zwei Monate nach dem Tod von Kremlgegner Nawalny veröffentlicht sein Team eine Doku-Serie, die nach den Schuldigen an der Herrschaft von Kremlchef Putin sucht. Das kommt nicht bei allen gut an.

28.4.2024 - 00:00

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Der Film «Verräter» handelt von den turbulenten 1990er-Jahren in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
  • Die Produktion rechnet mit Präsidenten Boris Jelzin ab, der das Land von 1991 bis 1999 führte, und mit den Oligarchen, die damals auf dubiose Weise ihre Reichtümer anhäuften.
  • Die Produktion des Nawalny-Team hat innerhalb der russischen Opposition eine hitzige Diskussion über ihre eigene Vergangenheit entfacht.

«Habt ihr euch mal gefragt, wann und wie alles schief lief?», fragt Maria Pewtschich, langjährige Vertraute des kürzlich verstorbenen Kremlgegners Alexej Nawalny, zu Beginn ihres neuesten Films. Mit «alles» meint Pewtschich die autoritäre Herrschaft von Russlands Präsident Wladimir Putin, das repressive Vorgehen gegen Andersdenkende, die Armut vieler Russen und nicht zuletzt wohl auch den brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. 

Sie schaut ernst in die Kamera. Dann wird in Grossbuchstaben der Titel der Doku-Serie eingeblendet, die das Nawalny-Team in diesen Tagen veröffentlicht: «Verräter». Die Produktion handelt von den turbulenten 1990er-Jahren in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie hat innerhalb der russischen Opposition direkt eine hitzige Diskussion über ihre eigene Vergangenheit entfacht.

Abrechnung mit Boris Jelzin

Als Leiterin von Nawalnys Anti-Korruptionsstiftung war Pewtschich bislang vor allem für Recherchen bekannt, die illegale Bereicherung von Putins Freunden und Angehörigen aufdeckten. In der jüngsten Veröffentlichung aber geht es weniger um den Kremlchef selbst, als um die, die ihm um die Jahrtausendwende an die Macht verhalfen. Zwei jeweils einstündige Teile der Serie sind bereits mit englischen Untertiteln auf Youtube veröffentlicht und dort millionenfach angeklickt worden. Ein dritter Teil soll bald folgen.

«Verräter» ist eine Abrechnung mit Russlands erstem Präsidenten Boris Jelzin, der das Land von 1991 bis 1999 führte, und mit den Oligarchen, die damals auf dubiose Weise ihre Reichtümer anhäuften. Detailreich schildert Nawalny-Mitarbeiterin Pewtschich die Werdegänge von berühmten Superreichen wie Roman Abramowitsch oder dem mittlerweile gestorbenen Boris Beresowski. Sie kauften in der grossen Privatisierungswelle nach und nach Staatsbetriebe auf, während viele einfache Russen in der chaotischen Umbruchszeit ihr Geld an Betrüger und undurchsichtige Anlage-Fonds verloren. Skizziert wird, wie die neue Wirtschaftselite innerhalb kurzer Zeit nicht nur Banken und Ölraffinerien kontrollierte, sondern auch grosse Fernsehsender – und wie sie erst Jelzin 1996 zur Wiederwahl verhalf und wenige Jahre später Putin zum Einzug in den Kreml.

Videos bergen Zündstoff

Putins heutige Herrschaft – so lautet die Hauptaussage – sei das Ergebnis dieses korrupten Klüngels, den sein Vorgänger Jelzin einst heranzog und der die Politik im Land massgeblich lenkte. Russland habe eine Chance auf Demokratie bekommen, doch der alkoholkranke Jelzin und die anderen macht- und geldgierigen «Verräter» hätten sie verspielt. «Heute sehen wir, dass sie das Land in den Abgrund gestossen haben», sagt Pewtschich.

Vorlage für die Filmreihe war ein Aufsatz mit dem Titel «Meine Angst und mein Hass», den Nawalny 2023 im Straflager schrieb und der wohl über seine Anwälte die Aussenwelt erreichte. Schon damals sorgte für Aufsehen, dass der Oppositionelle und politische Häftling nicht wie gewöhnlich seinen Erzfeind Putin verbal attackierte, sondern auch die liberale Elite der ersten postsowjetischen Jahre. «Ich hasse diejenigen, die die historische Chance, die unser Land zu Beginn der Neunzigerjahre hatte, verkauft, versoffen und vertan haben. Ich hasse Jelzin (...) und den Rest der korrupten Familie, die Putin an die Macht gebracht haben», schrieb der damals 47-Jährige darin.

Julia Nawalnaja, Witwe von Alexej Nawalny, setzt mit seinem Team die Arbeit ihres Mannes gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin fort.
Julia Nawalnaja, Witwe von Alexej Nawalny, setzt mit seinem Team die Arbeit ihres Mannes gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin fort.
Archivbild: sda

Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei wichtig, um für eine Zukunft nach Putin zu lernen, argumentieren Nawalnys ins EU-Exil geflohene Unterstützer nun. Auch Witwe Julia Nawalnaja, die die politische Arbeit ihres Mannes fortsetzen will, bewirbt die Filmreihe. Doch die Videos bergen Zündstoff – nicht zuletzt, weil sie auch Menschen an den Pranger stellen, die sich später gegen den Kremlchef positionierten. In sozialen Netzwerken hagelt es seit Tagen teils verständnislose Reaktionen.

Oppositionelle stellen sich vor Jelzin

Nawalnys Team stelle die Jelzin-Ära völlig eindimensional dar, beklagt zudem der politische Analyst Sergej Parchomenko. Seiner Meinung nach gehen die Filme unfair ins Gericht mit Russlands erstem Präsidenten, dessen Amtszeiten nach jahrzehntelanger Sowjetdiktatur auch neue Freiheiten, Reformen und Demokratisierungsprozesse brachten. «In dieser gesellschaftlichen und politischen Umgebung ist zwar all das passiert, was im Film beschrieben wird, aber auch kolossal viel, was nicht vorkommt», meint Parchomenko. 

Boris Jelzin wurde 1991 zum ersten Präsidenten Russlands gewählt.
Boris Jelzin wurde 1991 zum ersten Präsidenten Russlands gewählt.
Archivbild: Keystone

Andere Kommentatoren kritisieren, dass die in den Filmen präsentierten Informationen alle längst bekannt und vor allem reisserisch aufbereitet worden seien. Es sei unangemessen, die Schuld für Putins Verbrechen auf Jelzin abzuwälzen, heisst es weiter. Auch halten viele es für wenig zielführend, mitten im Krieg einen weiteren Keil in die ohnehin zerstrittene und im Ausland verstreute russische Opposition zu treiben. Putin half es stets, dass die zersplitterte russische Opposition sich nie gegen ihn vereinigte.

Chodorkowski lobt den Film

Doch es gibt auch positives Feedback. «Es ist das erste Mal, dass die Exil-Opposition eine neue nationale Debatte eingeleitet hat, anstatt nur auf das Verhalten des Kremls zu reagieren», schreiben die beiden Investigativjournalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan in einer Analyse für das Center for European Policy Analysis. Zudem widerlege die lebhafte Diskussion die Behauptung, Russlands politische Diaspora sei nach zwei Jahren Krieg bedeutungslos geworden. 

Tatsächlich dürften Nawalnys Anhänger allein das grosse Echo auf ihre Serie als Erfolg verbuchen. Immerhin stehen sie nach seinem Tod vor der Herausforderung, ihren bislang grossen Einfluss auf kritische Russen nicht einzubüssen. 

Vor diesem Hintergrund schlägt sogar der frühere Oligarch und heutige Oppositionspolitiker Michail Chodorkowski, der in den Filmen selbst nicht gut wegkommt, einigermassen versöhnliche Töne an: Mit vielen Darstellungen, die die Mitarbeiter von Nawalnys Anti-Korruptionsfonds FBK in den Filmen untergebracht hätten, sei er zwar nicht einverstanden, schreibt Chodorkowski. Doch: «Wenn der FBK auch nur irgendetwas tun kann, um den Krieg zu stoppen und Putins Regime zu stürzen (und das hoffe ich), dann okay, dann bin ich bereit, mir immer wieder anzuhören, was für ein Drecksack ich vor fast 30 Jahren war.»

Von Hannah Wagner, dpa