Meyers LiebesklinikDas Angewidert-Sein ist verständlich
Bruno Bötschi
12.5.2024
Die Freundin von blue News Leserin F.A. aus M. hat eine Beziehung mit einem verheirateten Mann. F.A. hat Mühe damit – vor allem deshalb, weil ihre Freundin ständig schlecht über die Ehefrau des Mannes spricht.
Unsere Familie pflegt eine langjährige gewachsene Verbindung mit einer Freundin und ihrem Sohn.
Wir fühlten uns fast wie eine Patchwork-Familie. Es hat einfach super gepasst.
Nun hat unsere Freundin eine Beziehung zu einem Mann geknüpft, die wir nicht schaffen, zu akzeptieren. Er ist verheiratet und hat Kinder – nun lästert sie ständig über seine Frau und was mit ihr alles schiefläuft, auch im Bett.
Wir können sie nicht verstehen. Ihre Beziehung entgegnet völlig unseren Wertvorstellungen. Mittlerweile sind wir ziemlich distanziert: Müssen wir uns damit zufriedengeben?
Darf man über die Beziehung von anderen überhaupt urteilen?
F.A.* aus M.
Hallo F.A.
Wir urteilen ohnehin ständig über alles Mögliche, und das ist auch richtig so.
Es dient unserer Orientierung, die ein psychologisches Grundbedürfnis ist. Die Frage ist vielmehr, inwiefern wir andere mit unseren vielen Urteilen behelligen sollen. Darin gehen wir ja gern etwas zu weit.
Zur Person: Thomas Meyer
Bild: Joan Minder
Schriftsteller, Drehbuchautor – und Coach in Beziehungs- und Liebesfragen: Thomas Meyer, Jahrgang 1974, berät neu die Leser*innen von blue News bei Liebeskummer und Beziehungsproblemen.
Das gilt zunächst für den neuen Partner Ihrer Bekannten. Dass er sich dafür entschieden hat, eine Affäre oder vielmehr eine zweite Beziehung anzufangen, ist das Eine.
Sich aber bei der neuen Frau über die alte zu beschweren, macht die Sache um einiges respektloser und entwürdigender.
Diese Geschichte ist durch und durch schäbig
Auch ihre Freundin könnte es dabei belassen, eine Affäre mit einem Familienvater eingegangen zu sein, hält es aber für angebracht, sie mit fremder Dreckwäsche zu versorgen. Womöglich legitimiert sie dadurch ihr eigenes Verhalten.
Dass sie angewidert sind und sich distanzieren, ist verständlich. Diese Geschichte ist durch und durch schäbig.
Aber leider nicht selten. Viele Beziehungen haben ihr Haltbarkeitsdatum längst überschritten und werden nur noch aufrechterhalten, weil die Konsequenzen der Trennung unwillkommen sind – und weil viele Eltern allen Ernstes glauben, sie täten ihren Kindern durch das Zusammensein um jeden Preis einen Gefallen.
Affären sind so etwas wie die logische Folge davon. Denn auch Bindung, Wertschätzung und Lustgewinn sind psychische Grundbedürfnisse. Und wenn sie in der bestehenden Beziehung nicht erfüllt werden, man aber aus den genannten Gründen an dieser festhalten will, beginnt man eben eine heimliche zweite.
Sie müssen sich damit nicht zufriedengeben
Zurück zu Ihrer Frage: Nein, sie müssen sich nicht damit zufriedengeben, dass diese Freundschaft nur noch eine Ruine ihrer selbst ist.
Denn das hiesse letztlich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, also so zu tun, als wäre eigentlich alles in Ordnung und man hätte sich lediglich etwas auseinandergelebt.
Sie dürfen dieser Frau in aller Klarheit sagen, dass ihr Verhalten sie abstösst und sie auf dieser Basis nicht länger mit ihr befreundet sein können und wollen. Eigentlich ist es sogar ihre Pflicht, denn selbst merkt sie offenbar nicht mehr, was für einen Unsinn sie da veranstaltet.
Manchmal müssen wir für unsere Mitmenschen unangenehm sein. Damit sie die Grenze spüren, die sie längst überschritten haben. Natürlich können sie sich einfach kommentarlos noch mehr zurückziehen. Die Sache also versanden lassen, wie man so schön sagt.
Aber ihre Freundin, die eigentlich keine mehr ist, wird es ihnen später vermutlich danken. Und sei es aus der Ferne.
Du hast eine Frage zu Beziehungs- oder Liebesproblemen an Schriftsteller und Coach Thomas Meyer? Schreib jetzt ein E-Mail an liebesklinik@bluewin.ch
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