Experte über Russlands Kurs «Putin weiss, dass er ein ganz grosses Spiel spielt»

Philipp Dahm

7.5.2024

Bei Einführung in fünfte Amtszeit: Putin bietet dem Westen Dialog an

Bei Einführung in fünfte Amtszeit: Putin bietet dem Westen Dialog an

Bei Einführung in fünfte Amtszeit: Putin bietet dem Westen Dialog an.

07.05.2024

Wladimir Putin ist als Russlands Präsident vereidigt worden. Schon wieder. Experte Ulrich Schmid spricht über Korruption, Atom-Drohungen sowie Minimalziele im Krieg und erklärt den Zustand der Gesellschaft.

Philipp Dahm

7.5.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Wladimir Putin ist am 7. Mai erneut als russischer Präsident vereidigt worden und kann nun bis 2030 weiter regieren.
  • Russland-Kenner Ulrich Schmid erklärt, wie der «organisierte Konsens» die russische Gesellschaft strukturiert.
  • Putin betrachtet Krieg und internationale Politik als «gigantische Geheimdienstoperation», glaubt Schmid.
  • Schmid spricht über Russlands Raffinerien, Rüstungsindustrie, Korruption und atomare Drohungen.
  • Mit Blick auf den Krieg definiert Schmid die Minimalforderungen Putins und territoriale Träume seiner Anhänger.

Als Wladimir Putin erneut als Staatspräsident vereidigt wird, spricht er von einem «geeinten Volk»: Ist Russland so geeint, wie Putin es sagt?

Er beschwört diesen «geeinten Volkswillen» immer wieder – als ob es ihn denn gäbe. Putin hat ihn sich bei den manipulierten Präsidentschaftswahlen mit den berüchtigten 87 Prozent Zustimmung zu seiner Position noch bestätigen lassen. Das ist alles reines Wunschdenken: Die russische Soziologie spricht eher von einem «organisierten Konsens».

Was versteht man darunter?

Das heisst, dass sich das Volk mit diesem System arrangiert hat und sich nicht offen dagegen stellt. Putin hat deshalb in letzter Zeit auch immer wieder Abstimmungen und Wahlen so organisiert, dass diese Äusserungen des angeblichen Volkswillens plebiszitären Charakter haben: Man sagt Ja zum System.

Westliche Experten sprechen über Putins wachsende Nervosität: Teilen Sie diese Einschätzung?

Putin weiss, dass er ein ganz grosses Spiel spielt und dass der Ausgang dieses Spiels unsicher ist. Natürlich versucht er, dieses grosse Spiel zu seinen Gunsten zu beeinflussen, aber meiner Meinung nach betreibt Putin keine Politik.

Wladimir Putin nimmt am 7. Mai in Moskau anlässlich seiner Vereidigung die Parade des Kremlregiments ab.
Wladimir Putin nimmt am 7. Mai in Moskau anlässlich seiner Vereidigung die Parade des Kremlregiments ab.
Bild: Keystone

Sondern?

Putin betrachtet das, was in der Ukraine und auf der internationalen Ebene passiert, als eine gigantische Geheimdienstoperation, die er mit seinen operativen Massnahmen Schritt für Schritt begleitet.

Öffentlich zeigt sich Putin derzeit selbstbewusst: Was gibt ihm neben dem Krieg Auftrieb?

Die Wirtschaftsdaten sehen auf dem Papier nicht so schlecht aus. Putin hat das am Anfang des Jahres öffentlich kommentiert und mit Genugtuung auf die Wachstumsprognosen für die russische Wirtschaft und die rekordtiefe Arbeitslosigkeit hingewiesen. Genauer betrachtet sieht es aber anders aus.

Kavalier mit Blumen: Putin trifft seine frühere Lehrerin Vera Gurevich am Tag seiner erneuten Amtseinführung am 7. Mai im Kreml.
Kavalier mit Blumen: Putin trifft seine frühere Lehrerin Vera Gurevich am Tag seiner erneuten Amtseinführung am 7. Mai im Kreml.
Bild: Keystone

Und zwar wie?

Das Wachstum wird im Wesentlichen durch die Rüstungsindustrie getrieben, die Tag und Nacht produziert. Das ist nicht nachhaltig und auf längere Zeit nicht durchzuhalten. Die tiefe Arbeitslosigkeit kann man auch Fachkräftemangel nennen.

Zur Person
IHK SG

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten russische Medientheorien und Nationalismus in Osteuropa. Der Zürcher lehrte oder lehrt an den Universitäten Bern, Basel, Bochum und Oslo.

Im Gegensatz zur Ukraine hat Moskau dafür keinen Munitionsmangel.

Die russische Munitionsproduktion ist einerseits effizient. Auf der anderen Seite wissen wir jetzt, dass die Munitionslieferungen aus Nordkorea erheblich sind und dass das einen Unterschied macht.

Was ist mit Russlands Raffinerien?

Wir wissen, dass die amerikanische Regierung in Kiew vorstellig geworden ist und gesagt hat, man solle beim Angriff auf russische Erdöl-Anlagen Zurückhaltung üben, weil hohe Treibstoffpreise die Chancen für eine Wiederwahl von Joe Biden gefährden könnten. Das hat bisher nur einen begrenzten Eindruck auf die ukrainische Regierung gemacht.

Was will Selenskyjs Regierung erreichen?

Sie will wichtige Infrastruktur in Russland selbst treffen, weil sie ganz genau weiss, dass ein erheblicher Anteil der russischen Staatseinnahmen aus diesem Geschäft kommen. Diese Angriffe tun weh, zumal sie auch den Benzinpreis in Russland selbst in die Höhe treiben.

Wie bewerten Sie Putins jüngste Ankündigung von neuen Manövern der Atom-Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine?

Putin hat immer wieder die Atomkeule geschwungen. Allerdings ist ein Einsatz von taktischen Atomwaffen unwahrscheinlich: Die russische Bevölkerung würde das nicht akzeptieren, und auch die halbverbündeten Atommächte China und Indien würden auf Distanz gehen. Die Drohung mit dem Einsatz der Atomwaffen ist selbst die Waffe.

Mehr oder wenige subtile Atom-Drohung als Waffe – Test einer russischen ballistischen Interkontinentalrakete vom Typ RS-24 Jars am 26. Oktober 2022 im Kosmodrom Plessezk.
Mehr oder wenige subtile Atom-Drohung als Waffe – Test einer russischen ballistischen Interkontinentalrakete vom Typ RS-24 Jars am 26. Oktober 2022 im Kosmodrom Plessezk.
Bild: IMAGO/UPI Photo

Innenpolitisch sorgt die Verhaftung von Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow für Schlagzeilen: Wie kam es zur Festnahme eines so hohen Tieres?

Das hat in der Tat viel Staub aufgewirbelt – vor allem auch wegen des Zeitpunktes der Verhaftung. In den kommenden Tagen muss Putin eine neue Regierung bestellen: Es gab Stimmen, nach denen Verteidigungsminister Sergei Schoigu allenfalls nicht bestätigt werden könnte.

Ist das realistisch?

Ich halte das für eher unwahrscheinlich. Schoigu ist einer der treuesten langjährigen Weggefährten Putins – und der belohnt Loyalität. Schoigu ist aber auch umstritten. Er kommt nicht aus der Armee, sondern aus dem Katastrophenschutz. Es gab in den letzten zwei Jahren wegen der katastrophalen Leistung der russischen Armee in der Ukraine hinter den Kulissen immer wieder Gerumpel. Das hat sich mittlerweile ein bisschen geändert.

28. Dezember 1999 in Moskau: Der damalige Premier Wladimir Putin im Gespräch mit Sergei Schoigu, dem damaligen Minister für Zivilverteidigung, Notstandssituationen und die Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen.
28. Dezember 1999 in Moskau: Der damalige Premier Wladimir Putin im Gespräch mit Sergei Schoigu, dem damaligen Minister für Zivilverteidigung, Notstandssituationen und die Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen.
Bild: Keystone

Bei Iwanow war das anders.

Die Verfehlungen Iwanows waren viel zu gross. Es gibt diese schizophrene Haltung gegenüber Korruption in der russischen Führung, das ist schon seit mehreren Jahren ein Thema. Auf den Chefetagen der einzelnen Ministerien schaut man sehr genau, dass die Leute zum Beispiel keine Auslandskonten haben, dass es keine grossen Korruptionsfälle gibt, die die operative Fähigkeit der Behörden beeinträchtigen können. Aber auf der anderen Seite ist der Staat selber durch und durch korrupt, wie wir auch durch die Aktivitäten von Alexei Nawalny wissen.

Wie steht es nach dem Anschlag auf die Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau um den Anti-Terror-Kampf?

Menschen aus Zentralasien, wo die mutmasslichen Täter herkommen sollen, aber auch Leute aus dem Südkaukasus werden vermehrt kontrolliert. Die zentralasiatischen Staaten warnen ihre Bürger mittlerweile davor, nach Russland zu reisen: Man solle nur fahren, wenn es wichtig sei. Der Anschlag hat da zu erheblichen Komplikationen geführt.

Wie wird es in der Sache weitergehen?

Das Image des Geheimdienstes hat schwer gelitten. Das reicht bis zum Präsidenten hinauf, der amerikanische Warnungen in den Wind geschlagen hat. Das Vertrauen ist angeknackst: Der Geheimdienst wird in den kommenden Monaten versuchen, dieses Versagen durch «Fahndungserfolge» wieder wettzumachen.

Bei Putins Vereidigung waren Russen aus Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson anwesend, die nun per Verfassung zum Kernland zählen: Ist ohne den Gewinn dieser Gebiete Frieden möglich?

Das ist ganz klar Russlands Minimalforderung für einen Waffenstillstand oder einen Frieden: Die Konsolidierung der russischen Staatlichkeit in diesen vier Gebieten markiert die untere Grenze dessen, was Putin der russischen Bevölkerung als Sieg präsentieren muss. Im Moment sieht es allerdings so aus, dass er mehr Hunger bekommt.

In welche Richtung geht dieser Appetit?

Die Eroberung von Odessa wäre aus russischer Sicht die ultimative Trophäe und wird immer wieder als Ziel einer russischen Offensive genannt. Bevor Munition und Waffen aus dem Westen eintreffen, könnte auch Charkiw angegriffen werden. Aber diese Stadt ist eine Knacknuss und ihre Eroberung wohl eher Wunschdenken.