St. Gallerin erobert Musik-Olymp Priya Ragu: «Ich dachte, das muss ein Zeichen vom Himmel sein»

Von Bruno Bötschi

20.10.2023

«Ich glaube, das Singen macht dich deshalb zu einem besseren Menschen, weil du währenddessen verstehst, wer du wirklich bist»: Priya Ragu.
«Ich glaube, das Singen macht dich deshalb zu einem besseren Menschen, weil du währenddessen verstehst, wer du wirklich bist»: Priya Ragu.
Bild: Warner Records UK

Seit drei Jahren macht die St. Galler Musikerin Priya Ragu international Karriere. Jetzt erscheint ihr Debütalbum. Ein Gespräch über Paolo Nutini, den Glauben an sich selbst und warum die 37-Jährige nach London zieht, obwohl sie Stadt nicht mag.

Von Bruno Bötschi

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Die St. Gallerin Priya Ragu ist mit ihrer Musik international erfolgreich.
  • Am 20. Oktober erscheint ihr Debütalbum «Santhosam».
  • «Ich habe meine ganze Kreativität in dieses Album gesteckt. Trotzdem wird es Menschen geben, die meine Musik nicht fühlen können und nicht mögen werden. Damit muss ich leben», sagt Ragu im Interview mit blue News.

Priya Ragu, wie glücklich bist du auf einer Skala von 1 bis 10?

Ich gebe mir neun Punkte.

Am 20. Oktober erscheint dein Debütalbum «Santhosam». Wie ist deine Gefühlslage?

Ich bin freudig erregt, weil ich schon lange auf diesen Tag warte. Gleichzeitig habe ich aber auch Respekt davor.

Fürchtest du dich vor negativer Kritik?

Das würde wehtun, natürlich. Gleichzeitig weiss ich, dass ich meine ganze Kreativität in dieses Album gesteckt habe. Trotzdem wird es Menschen geben, die meine Musik nicht fühlen können und nicht mögen werden. Damit muss ich leben. Würden plötzlich alle meine Musik lieben, wäre das ja auch komisch. Oder nicht?

«Santhosam» ist das tamilische Wort für «Glückseligkeit». Als ich dein Album heute Morgen zum ersten Mal hören konnte, machte mich bereits der zweite Song darauf sehr glücklich …

… wirklich?

Ja. Der Song «One Way Ticket» sorgte dafür, dass ich in meinem Wohnzimmer anfing zu tanzen.

Wow. Es ist genau das, was ich mit meiner Musik bewirken möchte. Gleichzeitig glaube ich, dass ich mich auf meinem Debütalbum musikalisch äusserst vielfältig präsentiere.

Das stimmt. Es gibt auch ruhige Momente – zum Beispiel dein Song «Let Me Breathe».

«Let Me Breathe» ist das Outro von «Black Goose», dem Song davor. «Black Goose» beginnt aggressiv. Es ist ein Song voller Wut, den mein Bruder Japhna Gold und ich im Zuge der Geschehnisse um den Mord an George Floyd und der «Black Lives Matter»-Proteste von 2020 geschrieben haben. Es geht darin um die Unterdrückung der People of Color in den USA, aber auch in Sri Lanka, dem Heimatland meiner Eltern.

Der Chorus von «Black Goose» tönt fast zerbrechlich …

Im Chorus zitiere ich George Floyd, der kurz vor seinem Tod immer wieder zu den Polizisten sagte: «Let me breathe (auf Deutsch: Lass mich atmen).» Im Song «Let Me Breathe» verlässt die Seele nach dem Tod den menschlichen Körper und fängt mit Gott an zu reden. Die Seele sagt: «Gott, jetzt sehe ich dich. Bitte lasse wenigstens die anderen Menschen, also die, die noch leben, weiter atmen.» «Let Me Breathe» ist ein emotionaler Song. Ein Song, der nach Freiheit, Emanzipation und Frieden ruft.

Du bist mit deinem Lied «Good Love 2.0» auf dem Soundtrack des Computerspiels «FIFA 21» zu hören. «Chicken Lemon Rice» ist der Soundtrack des amerikanisch-indischen Netflix-Films «Wedding Season»: Wie fühlt es sich an, wenn plötzlich ganz viele Menschen deine Musik hören?

Während der Entstehung ist ein Song sozusagen ein Teil von mir. Sobald ihn jedoch andere Menschen hören, fühlt es sich wie eine Trennung an. Das Lied findet einen neuen Platz. Vielleicht bei den Menschen im Herzen oder in irgendeiner TV-Serie.

Das klingt so, als würde dir deine eigene Musik fremd werden.

Ja. Nein. Vielleicht. Meine Musik ist viel grösser als ich und sie spricht viele Leute an. Das ist grossartig. Gleichzeitig wandern meine Songs durch die Welt und erfüllen auf diesem Weg ihre Verpflichtungen, bis ich mich irgendwann nicht mehr so richtig mit ihnen identifizieren kann …

… weil andere Menschen plötzlich ganz andere Dinge in deinen Songs sehen als du selber?

Genauso ist es.

«Würden plötzlich alle meine Musik lieben, wäre das ja auch komisch. Oder nicht?»: Priya Ragu.
«Würden plötzlich alle meine Musik lieben, wäre das ja auch komisch. Oder nicht?»: Priya Ragu.
Bild: Warner Records UK

Kann deine Stimme etwas auf deinem Debütalbum, was sie auf deiner ersten EP «Damnshestamil», die 2021 erschienen ist, noch nicht konnte?

Ich habe als Sängerin Selbstbewusstsein gewonnen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich viele Live-Erfahrungen machen durfte. Die Konzerte haben mich mutiger gemacht. Ich traue mir heute mehr zu – und das nicht nur mit meiner Stimme.

Du bist das Gesicht von Priya Ragu. Aber eigentlich seid ihr zu zweit. Das betonst du auch immer wieder in Interviews. Wie muss ich mir die Zusammenarbeit mit deinem Bruder Japhna Gold vorstellen?

Manchmal sitzen wir zusammen im Studio und es beginnt alles mit einem Beat. Oder ich spiele ein paar Akkorde und versuche zu improvisieren.

Die Töne sind demnach vor den Worten da?

Bei mir kommen zuerst die Akkorde, dann die Melodie und danach der Text.

Heisst das, ihr seid während der Entstehung des neuen Albums oft nächtelang zusammen im Studio gehockt?

Ich nicht, mein Bruder schon eher. Während der Produktion von «Santhosam» war es aber auch oft so, dass wir gar nicht am gleichen Ort waren. Stattdessen mailten wir uns gegenseitig Files zu. Dank der heutigen Technologie ist es nicht mehr nötig, während einer Musikproduktion im gleichen Raum am gleichen Ort zu sein.

Interviews gibst du immer alleine. Hat dein Bruder nicht Lust, auch einmal in der Öffentlichkeit zu stehen?

Bisher nicht. Was auch damit zu tun hat, dass Japhna neben mir auch noch andere Künstler produziert. Er hat zudem ein eigenes Musikprojekt am Laufen, dass er irgendwann releasen wird.

Im «Das Magazin» stand im Januar 2023 folgender Satz: «Priya Ragu war die Realistin, Japhna Gold der Träumer.»

Ich bin heute viel weniger Realistin als früher.

Wieso das?

Wer grösser träumt, der kann auch Grosses erreichen. Das wurde mir in den letzten Jahren immer wieder aufs Neues bewiesen.

«Meine Musik ist viel grösser als ich und sie spricht viele Leute an. Das ist grossartig»: Priya Ragu.
«Meine Musik ist viel grösser als ich und sie spricht viele Leute an. Das ist grossartig»: Priya Ragu.
Bild: Warner Records UK

Ist Musik machen immer schön oder tut Kreativsein auch einmal weh?

Natürlich gibt es diese Tage, in denen ich im Studio sitze und mich frage, was ich da genau mache und ob ich überhaupt eine Musikerin bin. Es gibt aber auch die magischen Tage, an denen wunderbare Songs entstehen.

Wirklich wahr, dass die Lektüre des Selbsthilfebuches «The Artist’s Way» von Julia Cameron dein Leben komplett verändert hat?

Das stimmt. In ihrem Buch beschreibt Julia Cameron Übungen, mit denen man die eigene Kreativität besser zum Fliessen bringen kann. Seit ich das Buch gelesen habe, schreibe ich jeden Morgen nach dem Aufstehen drei Seiten Papier voll. Ich notiere einfach, was mir gerade durch den Kopf geht.

Und wenn dir nichts in den Sinn kommt?

Ich habe auch schon drei Seiten lang geschrieben: «Es kommt mir nichts in den Sinn. Es kommt mir nichts …»

«Das Singen macht dich zu einem besseren Menschen», sagt Sängerin Mary J. Blige.

Ich glaube, das Singen macht dich deshalb zu einem besseren Menschen, weil du währenddessen verstehst, wer du wirklich bist. Singen bringt einen näher zu sich selber. Für mich ist Singen etwas Heiliges.

Du bist bei einem grossen Musiklabel unter Vertrag

… aber ich muss dich enttäuschen, lieber Bruno, mit Dua Lipa habe ich trotzdem nach wie vor kein Duett aufgenommen.

Bei unserem letzten Interview im März 2022 sprachen wir über Dua Lipa, weil die Sängerin beim gleichen Label unter Vertrag ist. Wie viel redete die Plattenfirma bei der Produktion deines neuen Albums mit?

Ich hatte extrem viel künstlerischen Freiraum bei der Produktion. Und dafür bin ich auch dankbar.

Ich behaupte: Erfolg macht glücklich.

Erfolg macht aber auch verletzlich. Wer Erfolg hat, ist oft ausgestellt und läuft deshalb Gefahr, dass jeder seine Arbeit kritisieren will.

Hat Erfolg noch mehr negative Seiten?

Erfolg haben verändert dich nicht, heisst es, aber man müsse aufpassen, dass einem der Fame nicht in den Kopf steigt.

Und passt du auf?

Ach, mein Fame ist noch nicht so gross. Obwohl ich sagen darf, dass ich bereits alles übertroffen habe, was ich mir am Anfang meiner Karriere als Musikerin vorgenommen habe.

Was macht dich im Leben – ausser das Musikmachen – sonst noch glücklich?

Ich spiele mega gerne Pingpong. Ich gehe gerne spazieren. Ich höre gerne Podcasts. Und ich bin gerne mit meiner Familie und meinen Freunden zusammen.

Mir scheint, dir sind deine Wurzeln sehr wichtig. Bist du deshalb von London zurück in die Schweiz gezogen?

Ich habe bisher immer in der Schweiz gelebt, war in den letzten zwei, drei Jahren einfach oft in London. Und sowieso: In der britischen Metropole gibt keine Migros- und Coop-Läden (lacht).

Du bist ein Coop-und-Migros-Kind?

Sagen wir es so: Während meiner Kindheit war ich mehr ein Migros-Kind, heute tendiere ich mehr zu Coop.

Gefällt dir London nicht?

Ehrlich gesagt, mir ist London einfach zu gross. Egal, was du in der Stadt unternimmst, du bist fast immer ein, zwei Stunden unterwegs. Zudem habe ich in London bisher noch nicht so viele Freunde. Trotzdem habe ich mich jetzt entschieden, dass ich ab Dezember für ein Jahr dort hinziehen werde.

Vor sechs Jahren lebtest du schon einmal ein halbes Jahr in einer Weltstadt. Dein damaliger Aufenthalt in New York veränderte dein Leben. In der Folge hast du deinen Job bei der Swiss gekündigt und voll auf die Karte Musik gesetzt.

Ich gebe London jetzt einmal eine Chance und dann schauen wir, was alles passieren wird.

«Ich gebe London jetzt einmal eine Chance und dann schauen wir, was alles passieren wird»: Priya Ragu.
«Ich gebe London jetzt einmal eine Chance und dann schauen wir, was alles passieren wird»: Priya Ragu.
Bild: Warner Records UK

Von Palma Ada über Marlin bis Naomi Lareine erobern aktuell gleich mehrere jungen Schweizer Musikerinnen die Hitparaden. Was denkst du: Wie kommt’s?

Es kommt jetzt die Zeit, wo die Frauen übernehmen. Das ist wunderbar.

Mit welcher Sängerin würdest du gerne ein Duett singen?

Ich würde lieber mit jemandem essen gehen.

Du singst lieber allein?

Ich hatte bisher einfach noch nie Lust, ein Duett aufzunehmen – mit einer Ausnahme. Ich würde gerne ein Duett mit Paolo Nutini aufnehmen.

Wie kommt’s?

Während der Entstehung meines neuen Albums hatte ich plötzlich das Gefühl, ich möchte mit Paolo zusammen einen Song aufnehmen.

Wie ging es weiter?

In der Folge haben wir versucht, Paolo Nutini zu erreichen. Das gestaltete sich aber ziemlich kompliziert, weil er gerade selber in der Produktion zu einem neuen Album steckte. Irgendwann gab ich das Projekt auf. Kurz danach reiste ich nach London und wen sehe ich dort auf der Strasse, als ich gerade zum Coiffeur gehen will?

Paolo Nutini.

Ja, so war es. Ich dachte, das muss ein Zeichen von Himmel sein.

Hast du ihn angesprochen?

Zuerst habe ich lange hin und her überlegt, doch dann sprach ich ihn an und erzählte ihm von meiner Idee.

Was antwortete er?

Er meint, er sei kein Freund von Kooperationen. Ich lachte und sagte: Ich auch nicht. Wir haben dann noch etwas weiter geredet zusammen, bis er mir irgendwann seine Mailadresse gab.

Das heisst, es wird schon bald ein Duett Priya Ragu und Paolo Nutini geben?

Wir sind auf jeden Fall seither in Kontakt. Und wer weiss, vielleicht entsteht daraus dereinst ein gemeinsamer Song.


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