Leben ohne Nachwuchs«Auch ich hatte lange das Gefühl, Kinder gehören einfach dazu»
Von Bruno Bötschi
13.4.2023
Es gibt eine Kluft zwischen Kinderlosen und Eltern. Nadine Gloor hat deshalb kürzlich den Blog «Kinderfrei glücklich» lanciert. Ein Gespräch über gesellschaftliche Stereotypen und verletzende Aussagen von Müttern.
Von Bruno Bötschi
13.04.2023, 13:55
19.04.2023, 08:02
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Nadine Gloor und Kollegin Jrene haben im vergangenen Januar den Blog «Kinderfrei glücklich» auf die Beine gestellt.
«Kinder bekommen oder nicht?» ist immer noch eine der zentralen Fragen im Leben vieler Menschen.
Die beiden Frauen wollen eine Plattform anbieten, auf der sich interessierte Menschen – Frauen genauso wie Männer –austauschen können.
Nadine Gloor, laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) von 2020 haben in der Schweiz rund ein Viertel der Frauen zum Zeitpunkt ihrer Menopause keine Kinder. Die Zahlen der Männer dürften noch etwas höher liegen. Kinderlosigkeit ist trotzdem nach wie vor ein Tabuthema. Warum?
Das habe ich mich auch schon oft gefragt – bisher aber keine valable Antwort dafür gefunden.
Wann wurdest du zuletzt gefragt, ob du keine Kinder haben möchtest?
Das ist eine Frage, die du nicht einfach so einem Menschen stellen solltest – vor allem nicht einer Frau, die du kaum kennst. Du weisst nicht, weshalb sie keine Kinder hat. Vielleicht möchte sie keine oder es gibt medizinische Gründe dafür. Möglicherweise ist die Frau seit einiger Zeit am Üben, aber es klappt einfach nicht. Oder wer weiss, vielleicht erlitt sie kürzlich eine Fehlgeburt. Ich fände es schön, wenn die Gesellschaft mit dem Thema «Kinderfrei» sensibler umgehen würde.
Viele Menschen nehmen nach wie vor an, dass eine Frau einfach Kinder haben möchte. Sie kommen nicht auf die Idee, dass kein medizinisches Problem dahintersteckt – sondern einzig der freie Wille.
Dem ist leider so. Und, sagt eine Frau klipp und klar, sie wolle keine Kinder, wird sie von ihrem Gegenüber oft mitleidsvoll angeschaut.
Mit der Website kinderfrei-leben.ch hast du zusammen mit Jrene Anfang des Jahres eine Plattform für kinderlose Menschen lanciert. Wie kam es dazu?
Vorab noch dies: Wir sprechen auf unserem Blog von kinderfreien Menschen statt von kinderlosen. Und nun zu deiner Frage: Ich beschäftige mich seit langem mit dem Thema. Viele Jahre fand ich aber kaum jemanden, mit dem ich mich hätte darüber austauschen können. Ich fühlte mich allein gelassen und dachte, niemand denkt so wie ich. Bis ich mich im vergangenen Jahr zum ersten Mal mit Jrene ausgetauscht habe und wir realisiert haben, dass wir beide keine Kinder möchten.
Wie ging es danach weiter?
Irgendwann sagte ich zu Jrene, ich würde gern eine Plattform für Menschen schaffen, die kinderfrei glücklich sein möchten.
Seit Januar ist euer Blog online. Wie sind die Reaktionen darauf ausgefallen?
Grösstenteils positiv. Natürlich gibt es auch kritische Stimmen, nicht zuletzt aus meinem persönlichen Umfeld. Und manche Menschen zeigten sich einfach überrascht, warum ich zu diesem Thema einen Blog lanciert habe. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass es uns nicht darum geht, andere bekehren zu wollen.
Im März hast du auf eurem Blog den Text «Die einzig wahre Liebe» publiziert. Du schreibst darin, wie dir kürzlich eine Frau sagte, ohne Kinder würdest du nie erfahren, was wahre Liebe sei. Wie fühlt es sich an, wenn einem so eine Aussage an den Kopf geworfen wird?
Natürlich hat das wehgetan, sehr sogar. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es die Aussage einer Frau war, die mir davor erklärt hat, dass gewisse Aussagen in unserem Blog Mütter verletzen würden. Gleichzeitig wollte die Frau nicht einsehen, dass sie mich mit ihrer Aussage ebenfalls verletzt hat.
Die Aussage «Ohne Kinder wirst du nie erfahren, was wahre Liebe ist» klingt so, als könnte die Frau ihren Partner nicht gleich lieben wie ihr Kind.
Das fragte ich die Frau auch. Sie antwortete mir dann, dass sie ihr Kind mehr liebe als ihren Mann.
Hast du dich je dafür geschämt, dass du keine Kinder haben möchtest?
Geschämt habe ich mich deswegen nie. Ich habe mir aber schon überlegt, ob es vielleicht einfacher gewesen wäre, wenn ich Kinder gewollt hätte (lacht).
Wann hast du dich definitiv entschieden, dass du nicht Mutter werden möchtest?
Heute weiss ich, tief im Innern wollte ich keine Kinder haben, also wahrscheinlich schon bevor ich im gebärfähigen Alter war. Bis zur definitiven Entscheidung war es trotzdem ein langer Weg. Denn auch ich hatte lange Zeit das Gefühl, Kinder gehören einfach dazu.
Hat dich das gestresst?
Sehr sogar. Jahrelang dachte ich, ich müsste vor dem Muttersein ganz viele Dinge erledigen. Nachdem ich vor fünf Jahren meinen Mann geheiratet habe, wurde der Druck grösser. Trotzdem schoben wir das Thema ständig nach hinten, bis wir uns eines Tages zusammengesetzt haben und gesagt haben, jetzt müssen wir uns entscheiden. Wir waren uns einig, dass wir keine Kinder haben wollen.
Wie fühlte sich das an?
Es war eine grosse Erleichterung und mir fiel ein riesengrosser Stein vom Herzen. Zudem spürte ich das Bedürfnis, anderen Menschen davon zu erzählen.
Wie reagierte dein Umfeld darauf?
Zum grössten Teil positiv – aber natürlich musste ich mir auch Kritik anhören. Am allerschlimmsten finde ich die Aussage: «Ach, auch du wirst irgendwann das Bedürfnis haben, Mutter zu werden.» Dieser Satz ist so verletzend, weil er mir und anderen Frauen die Entscheidungsfähigkeit abspricht.
Mir fällt auf, dass ich mich als Mann viel weniger rechtfertigen muss, dass ich mich für ein Leben ohne Kinder entschieden habe. Hingegen hörte ich schon den Satz: «Du wärst ein guter Vater geworden.» Geht es deinem Mann ähnlich?
Es stimmt, mein Mann darf viel eher kinderfrei existieren. Er wird nicht mit abwertenden Kommentaren konfrontiert – im Gegensatz zu mir. Ich denke, das hat damit zu tun, dass Elternschaft nach wie vor grösstenteils mit der Frau in Verbindung gebracht wird. Männern kommt heute vermeintlich noch keine grosse Rolle in der Kindererziehung zu. Ich persönlich finde, ein Mann hat genau so viele Pflichten als Vater wie eine Frau als Mutter.
Das ist eine berechtigte Frage. Aber es ist und war nie mein Grund, keine Kinder zu bekommen.
Was denkst du, warum glauben nach wie vor so viele Menschen, kinderfreie Frauen seien weniger glücklich? Hat es möglicherweise mit unserer christlichen Erziehung zu tun?
Gegenfrage: Ist es unchristlich, keine Kinder zu haben?
2022 sagte Papst Franziskus: «Wer in der Welt lebt und heiratet, muss daran denken, Kinder zu haben.»
Zum Glück bin ich nicht katholisch.
Noch erschreckender für Franziskus ist die Tatsache, dass Tiere an die Stelle von Kindern treten: «Viele Paare haben keine Kinder, weil sie nicht wollen, aber sie haben zwei Hunde, zwei Katzen.»
Fakt ist doch viel mehr: Es gibt viele Paare, die gute Gründe haben, keine Kinder zu bekommen. Und unter uns gesagt: Ich könnte mir durchaus vorstellen, irgendwann ein Haustier anzuschaffen.
Der Papst glaubt zudem, dass kinderfreien Paaren im Alter die Einsamkeit drohe.
Es ist oft eine der ersten Aussagen, die ich von Menschen höre, die sich nicht vorstellen können, dass eine Frau keine Kinder haben möchte. Es ist gar nicht lange her, da hat mir jemand allen Ernstes ins Gesicht gesagt: «Jesses, du stirbst einmal allein.» Aber egal ob mit oder ohne Kinder, ich finde es wichtig, dass ein Mensch während seines Lebens ein Umfeld aufbaut. Und übrigens: Es gibt Studien, die zeigen, dass kinderfreie Menschen bessere Liebesbeziehungen pflegen, da die Paare sich auf sich und ihre Partnerschaft konzentrieren können.
Die entscheidende Frage für viele kinderfreie Menschen lautet: Werde ich es eines Tages bereuen, keine Kinder auf die Welt gesetzt zu haben?
Natürlich kann es sein, dass ich es mit 50 bereuen werde, nicht Mutter zu sein. Fakt ist jedoch: Ich lebe im Moment und höre sehr genau auf mein Bauchgefühl. Und dieses Gefühl sagt mir seit Jahren, ich möchte keine Kinder haben.
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