Spuren führen in die Schweiz Putins Geheimdienst-Einheit soll hinter Attacken auf US-Diplomaten stecken

phi

2.4.2024

Flaggenhissung im US-Konsulat in Frankfurt: Das Havanna-Syndrom von 2016 soll dort bereits 2014 aufgetreten sein.
Flaggenhissung im US-Konsulat in Frankfurt: Das Havanna-Syndrom von 2016 soll dort bereits 2014 aufgetreten sein.
Archivbild: Keystone

US-Diplomaten klagen über Kopfweh und Schwindel: Die Vorfälle kreieren 2016 das Phänomen «Havanna-Syndrom», für das es bisher keine Erklärung gibt. Neue Recherchen führen nun zum russischen Geheimdienst.

phi

2.4.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Das Havanna-Syndrom ist seit 2016 bekannt, seit US-Diplomaten über Symptom wie Kopfweh, Schwindel und Übelkeit klagen.
  • Ähnliche Vorfälle gab es in weiteren Ländern wie Russland und China, aber auch Wien und Genf waren angeblich betroffen.
  • Zur Ursache gibt es verschiedene Thesen. Die US-Regierung sagte zuletzt, «ausländische Gegner» seien nicht verantwortlich.
  • Recherchen mehrerer Medien legen nun nahe, dass die Einheit 29155 des russischen Militärnachrichtendienstes GRU dahinterstecken soll, die an «nicht tödlichen akustischen Waffen» arbeite.
  • Die Attacken sollen bereits 2014 in Frankfurt begonnen haben.
  • Reisedaten der Einheit 29155 decken sich grossteils mit entsprechenden Angriffen auf US-Diplomat*innen.

Das Havanna-Syndrom bleibt kaum greifbar. 2016 hat das Phänomen seinen Namen erhalten, nachdem US-Diplomaten in Kuba nach einem Schallimpuls über unerklärliche Symptome wie Kopfschmerzen, Hörverlust, Schwindel und Übelkeit klagten.

Zur Ursache gab es bisher viele Theorien. Mal wurde ein Grillenzirpen verantwortlich gemacht, mal wurde den Betroffenen Einbildung unterstellt – doch auch über einen Mikrowellenangriff wurde spekuliert. Zuletzt teilten US-Geheimdienste allerdings mit, es liege kein Angriff eines «ausländischen Gegners» vor.

Und nun die erneute Kehrtwende: Der Hamburger «Spiegel», «The Insider» aus Lettland und das CBS-Format «60 Minutes» präsentieren neue Erkenntnisse zum Havanna-Syndrom, nach denen Spezialisten des russischen Militärnachrichtendienstes GRU hinter der Sache stecken: Die Einheit 29155 ist für Anschläge und Destabilisierung im Ausland zuständig.

Attacken begannen angeblich bereits 2014

Ihr prominentestes Opfer soll Sergei Skripal gewesen sein: Auf den russischen Überläufer war im März 2018 zusammen mit seiner Tochter im englischen Salisbury vergiftet worden. Einheit 29155 soll auch hinter dem Berliner «Tiergarten-Mord» von 2019 stecken. Erst in jenem Jahr macht ein Bericht der «New York Times» die Truppe im Westen bekannt. 

Beamte der Spurensicherung sichern im August 2019 in einem Faltpavillon Spuren an einem Tatort im kleinen Tiergarten in Berlin, nachdem ein Mann getötet wurde.
Beamte der Spurensicherung sichern im August 2019 in einem Faltpavillon Spuren an einem Tatort im kleinen Tiergarten in Berlin, nachdem ein Mann getötet wurde.
Bild: Keystone

Den neuen Recherchen zufolge trat das ominöse Syndrom zum ersten Mal nicht 2016 in Havanna auf, sondern bereits 2014 in Frankfurt: Im November sollen gleich mehrere US-Regierungsbeamte angegriffen worden sein, sagt Mark Lenzi aus dem US-Aussenministerium, der selbst vor zehn Jahren in Deutschland stationiert war.

Die damaligen Attacken seien so heftig gewesen, dass mehrere Personen davon gar das Bewusstsein verloren haben sollen. «Aber anstatt die Fälle 2014 zu untersuchen, entschied die US-Regierung sich, wegzuschauen und so zu tun, als wäre nichts passiert», klagt Lenzi im «Spiegel».

Reisedaten der Agenten decken sich mit Angriffen

Recherchen des Magazins ergeben, dass zwei Mitarbeiter der Einheit 29155 am 25. September 2014 über Genf nach Frankfurt geflogen sind: Mehrere Angestellte, die damals im US-Konsulat gearbeitet haben, sollen die GRU-Männer auf Fotos wiedererkannt haben, heisst es weiter. «Das ist definitiv der Mann», sagt einer der Zeugen. «Ich habe Gänsehaut.»

Weiter finden die Journalist*innen heraus, dass sich die Einheit 29155 explizit mit einer «nicht tödlichen akustischen Waffe» beschäftigt hat. Spuren der entsprechenden Agenten führen nach Österreich, Georgien, Usbekistan und China. In Guangzhou erwischt es 2017 auch Mark Lenzi, der drei Jahre zuvor Zeuge der Attacken in Frankfurt wurde.

Wladimir Putin spricht am 1. Januar in Moskau mit Soldaten, die in der Ukraine im Einsatz sind.
Wladimir Putin spricht am 1. Januar in Moskau mit Soldaten, die in der Ukraine im Einsatz sind.
Imago/Zuma Wire

Die Mitglieder der GRU-Einheit «sind offenbar öfter an jene Orte gereist, an denen später US-Diplomaten über Beschwerden klagten», hält der «Spiegel» fest – auch wenn sich die Angriffe und die Reisedaten «nicht immer überschneiden». Wladimir Putins Agenten arbeiten dabei «offenbar eng mit einer Gegenspionageeinheit des Geheimdienstes FSB zusammen, die als FS-9 bekannt ist».

«Wie ein Schraubstock auf meinem Schädel»

«Doch womit sollen die Schlapphüte denn nun eigentlich zugeschlagen haben? «Ein Angriff mit gerichteten, gepulsten elektromagnetischen Wellen ist eine von mehreren plausiblen Erklärungen», erklärt der Arzt David Relman. Laut «Spiegel» gibt es drei denkbare Varianten: thermoakustische Effekte, starke elektromagnetische Felder oder die Störung von Hirnströmen durch Wellen bestimmter Frequenzen.

Für die Betroffenen sind die Attacken verheerend. Marc Polymeropoulos trifft es 2017 bei einer Reise nach Moskau. Der CIA-Mann erwacht plötzlich im Marriott-Hotel in Moskau mit Kopfweh, Ohrenrauschen und Übelkeit. Wenige Tage später befällt den heute 54-Jährigen im Café Puschkin die nächste Schmerzattacke. 2019 muss das Opfer bei der CIA kündigen.

Er habe noch heute Kopfschmerzen, klagt Polymeropoulos. «Wie ein Schraubstock auf meinem Schädel», fühle sich das ab. Erst als 2020 das Magazin «GQ» über seinen Fall berichtet, nehmen die Behörden ihn ernst: Sie überweisen ihn an das berühmte Militärspital Walter Reed in Maryland. «Die Ärzte haben mir das Leben gerettet», sagt Polymeropoulos zurückblickend.