Das letzte Tabu?Lust, Sex und Leidenschaft – speziell für Senioren
Bruno Bötschi
22.10.2018
Das Interesse an normalem Sex schwindet, Schuld soll das Altern der Gesellschaft sein. In Japan ersetzen deshalb seit einiger Zeit weichere Angebote den Geschlechtsverkehr.
2004 wurde in der Schweiz heftig über Senioren-Sex diskutiert. Auslöser war ein Referat von Judith Giovanelli-Blocher, der Schwester von Christoph Blocher, über «Partnerschaft und Sexualität im Alter». Die Boulvardzeitung «Blick» beleuchtete das Thema danach tagelang und von oben bis unten.
An einem Tag sagte der 2010 verstorbene deutsche Filmproduzent Oswalt Kolle, Alte seien besser im Bett, am nächsten behauptete ein Altenpfleger, dass es bei ihm im Altersheim prickle.
Senioren-Sex – das auf ewig letzte Tabu? «Wolke 9», ein deutscher Film über Sex im Alter, löste 2008 schon deutlich weniger Diskussionen hierzulande aus. Und trotzdem: Wenn über das Thema «Sex im Alter» geschrieben wird, wählen die Medien meist einen medizinischen oder ratgeberischen Ansatz.
Japaner sind weniger prüde
Ganz anders in Japan: Dort seien die Menschen weit weniger prüde als in vielen westlichen Ländern, schreibt das Magazin «Frankfurter Allgemeine Quarterly» in seiner Herbst-Ausgabe.
Bei Fruchtbarkeitsfesten werden regelmässig riesige, hölzerne Phalli durch die Strassen getragen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist Pornografie in Japan allgemein zugänglich.
Die japanische Sexindustrie hat eine sehr lange Geschichte. Bereits im 15. Jahrhundert sollen sich Chinesen und Koreaner in den Bordellen des asiatischen Inselstaates verlustiert haben – Tokios Unterhaltungsviertel Yoshiwara feiert gerade den 400. Geburtstag.
Die Prostitution ist im Land derart akzeptiert, dass in Umfragen bis zu 40 Prozent der japanischen Männer angeben, schon einmal für eine sexuelle Dienstleistung bezahlt zu haben.
Die Lust geht nicht in Rente
Seit einiger Zeit kämpft jedoch «fuzoku» – so nennen die Japaner ihre Sexindustrie – mit einem Problem, vor dem auch die Erotikbranche in der Schweiz bald stehen könnte.
Knapp ein Drittel der Japaner ist über 65 Jahre alt, der höchste Anteil weltweit. Bis 2060 soll der Anteil dieser Altersgruppe auf 40 Prozent der Bevölkerung steigen.
Hunderte Partnervermittlungs-Agenturen sind entstanden, die speziell Senioren Liebes- und Lebenspartner zu vermitteln versuchen. Auch über 90-Jährige sollen auf diesem Weg noch ihr Glück finden.
Und so muss es nicht wundern, dass in Japan Seniorenpornos immer beliebter werden. «Silberpornos» – Sexfilme mit Älteren und für Ältere – machten inzwischen 20 bis 30 Prozent des 20-Milliarden-Dollar-Geschäfts der Pornofilme aus, sagen Kenner der Branche. Die Lust scheint nicht in Rente zu gehen.
«Weichere, weniger explizite Dienste»
Die älteren Japaner sind also laut «Frankfurter Allgemeine Quarterly» weiterhin an Sex interessiert, aber sie wollen oder können selbst kaum mehr Sex haben. «Die Älteren wünschen sich weichere, weniger explizite Dienste», sagt Katsuhito Matsushima vom Yano-Forschungsinstitut in Tokio – dieses untersucht die Sexindustrie regelmässig.
Ein Wandel, der seit einiger Zeit auch in Yoshiwara, Tokios Zentrum für sexuelle Dienste, sichtbar ist: Wo einst ein Bordell neben dem anderen stand, konkurrieren heute sogenannte «Soaplands»: Dort duschen Frauen in Dessous ihre Kundschaft für rund 90 Schweizer Franken und seifen sie mit ihrem nackten Körper ein.
Forscher, die sich mit der Entwicklung im «fuzoku» beschäftigen, würden den Trend bestätigen: Weichere Angebote ersetzen den Geschlechtsverkehr. Eine Kreativität übrigens, die durchaus Tradition hat, denn Japans Erotikbranche bietet schon lange mehr als nur konventionellen Sex. Die Besatzer aus den USA zwangen den Japanern vor mehr als 60 Jahren ein Gesetz auf, das den Penis-Vaginal-Verkehr tatsächlich bis heute verbietet.
Der japanische Rocco Siffredi
Viele Prostituierte bieten ihn aber dennoch als «private Absprache» an. Zugleich entwickelte sich – wiederum gemäss «Frankfurter Allgemeine Quarterly» – in den letzten Jahrzehnten eine Vielfalt erotischer Dienstleistungen jenseits des eigentlichen Geschlechtsverkehrs. Diese Anbieter sollen sich verstärkt ihrer alternden Kundschaft zuwenden.
Das geht so: In «kyabakura»-Clubs können sich Senioren von Frauen Drinks servieren und hofieren lassen (seltener andersherum), in sogenannten «Maid-Cafés» servieren Frauen in Riemchenschuhen ihren Kunden das Essen löffelweise wie einem Baby. Und Rentner bezahlen Frauen, damit sie als Schulmädchen verkleidet mit ihnen ausgehen, das nennt sich dann «Enjo Kosai» – «kompensiertes Daten».
Der Senioren-Pornomarkt boomt im Inselstaat also, und es gibt dort sogar einen 83-jährigen Filmstar: Shigeo Tokuda («The Legend Grandpa»), der so etwas wie der japanische Rocco Siffredi («Italian Stallion») ist.
Tokuda hat für hunderte Hardcorefilme mit Titeln wie «Verbotene Altenpflege» die Hüllen fallen lassen. Seine Gespielinnen könnten oftmals seine Enkelkinder sein – doch Tokuda drehte auch Pornos mit Seniorinnen.
Altersheime bestellen Sexbegleiter
Und die Schweizerinnen und Schweizer? Knapp ein Fünftel der Eidgenossen sind über 65 Jahre alt. Dieser Anteil wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Es wird also spannend bleiben, das Thema «Sex im Alter» weiter zu beobachten.
So wild wie in Japans «fuzoku» wird es hierzulande jedoch kaum werden. Oder kennt jemand einen 80-jährigen Schweizer Pornostar?
Immerhin: Es gibt in der Schweiz bereits Altersheime, die es zulassen, dass ihre Bewohner Berührerinnen oder Sexbegleiter bestellen. Und manch ein Sexclub wirbt damit, dass er rollstuhlgängig sei.
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