Putin nutzt schweren Fehler der Ukraine aus Jetzt übernimmt Russland das Zepter an der Front

Von Stefan Michel

1.5.2024

Ein zerstörtes Kulturhaus in der Nähe von Awdijiwka: Russland hat das Dorf vor zwei Monaten erobert und rückt seither weiter nach Westen vor. 
Ein zerstörtes Kulturhaus in der Nähe von Awdijiwka: Russland hat das Dorf vor zwei Monaten erobert und rückt seither weiter nach Westen vor. 
Bild: Keystone/AP/Alex Babenko

Russland rückt im Donbass weiter vor. Jüngste Erfolge scheinen auf einen baldigen Durchbruch der russischen Armee hinzuweisen. Auch US-Analysten sehen Russland im Vorteil, aber nicht auf der Siegerstrasse.

Stefan Michel

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Russland rückt seit Monaten im Osten der Ukraine vor.
  • In den letzten Tagen hat es mehrere Dörfer eingenommen und scheint die ukrainische Abwehr aufzubrechen.
  • Analysten sehen Russland zwar im Vorteil, ihr Vorrücken sei aber noch nicht entscheidend.

Als der damalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, im März einräumte, die Lage an der Front sei schwierig, musste er wenig später seinen Posten räumen.

Am vergangenen Sonntag hat auch sein Nachfolger Oleksander Syrskyj auf Telegram geschrieben, die Situation habe sich verschlechtert, Russland sei bezüglich Streitkräfte und Ressourcen deutlich im Vorteil. «Der Feind greift auf der ganzen Frontlinie an und macht taktische Gewinne in einigen Gebieten.»

Die Realität hat also auch den neuen Oberbefehlshaber eingeholt. Jüngste Erfolge haben sogar Erwartungen geschürt, Russland könnte demnächst die ukrainischen Verteidigungslinien überrennen.

Noch ist Russland nur taktisch im Vorteil

Soweit ist es laut Strategie-Expert*innen nicht. Das Institute for the Study of War ISW schreibt in seiner Lagebeurteilung vom Montag, 29. April: «Die russischen Streitkräfte haben am 29. April nordwestlich und südwestlich von Avdiivka weitere geringfügige taktische Gewinne erzielt, sind aber in den letzten 24 Stunden nicht wesentlich in Richtung Avdiivka vorgedrungen.»

Die Karte, auf der die ISW-Wissenschaftler Gebietsgewinne auf dem ukrainischen Schlachtfelt festhalten, zeigt aber von Dworitschna ganz im Nordosten der Ukraine entlang der Frontlinie bis südlich von Saporischja kleine oder grössere russische Vorstösse in den letzten 24 Stunden (Stand am 29. April 2024).

Während des ersten Jahres des Kriegs schien die Ukraine taktisch überlegen. Diesen Vorteil scheint sie eingebüsst haben. «Die russische Armee hat dazu gelernt, schlechte Generäle wurden entlassen und die taktischen Erkenntnisse beginnen sich auszuzahlen», erklärt der britische Militär-Analyst Frank Ledwige im Gespräch mit dem Nachrichensender DW. 

Folgenschwerer Fehler der Ukraine

Wie sehr die ukrainischen Truppen unter Druck stehen, zeigt ein folgenschwerer Fehler, den ihre russischen Gegner sofort ausnutzten: Die 47. Mechanisierte Brigade, eine Elite-Einheit, die seit Monaten an der Front im Einsatz stehe, sollte abgelöst werden. Die 115. Mechanisierte Brigade hätte ihre Stellung beim Dorf Otscheretyne übernehmen sollen. Doch bevor die Ablösung da war, habe die 47. Mechanisierte Brigade den Ort verlassen. Die Russen hätten dies bemerkt und hätten Otscheretyne eingenommen. Die eilig herangezogene 100. Mechanisierte Brigade habe dies nicht verhindern können.

Die Ukraine erklärt das Vorrücken Russlands primär mit dem Mangel an Waffen und Munition, weil ihre Verbündeten nicht genug liefern. Frank Ledgwige bestätigt, dass Russland die ukrainischen Stellungen seit Monaten massiv beschiesse. So sei die Ukraine immer schlechter in der Lage, die russische Luftwaffe anzugreifen, was deren Aufklärung verbessere. Es lässt sich also zusammenfassen, dass sich der massive russische Beschuss allmählich auszuzahlen beginnt. 

Die beiden Wissenschaftler Christian Mölling und András Rácz legen im ZDF dar, dass die Gefahr eines russischen Durchbruchs real sei, sofern es den Truppen gelänge, ihren Vorstoss zu vertiefen und auszuweiten. 

Russland ist unter Zeitdruck

Das ISW beschreibt, die russischen Einheiten hätten nun die Wahl, in welche Richtung sie vorrücken wollten. Ein Ziel könnte sein, westlich des im Februar eroberten Awdijiwka weiter in Richtung Pokrowsk vorzustossen. Nur noch wenige Kilometer trennen die russischen Truppen von Chasiv Yar, «ein Ort, von dem wir in nächster Zeit wohl viel hören werden», sagt Ledwige voraus.

Chasiv Yar sehen auch Mölling und Rácz als entscheidenden Ort. «Sollte Tschasiw Jar fallen, würde dies die gesamten ukrainischen Verteidigungslinien in der Region unhaltbar machen, möglicherweise einschliesslich Konstantikiwka», schreiben die beiden Sicherheitsforscher.

Einig sind sich die Beobachter und Kommentatoren, dass Präsident Putin am 9. Mai, dem Tag des russischen Sieges über Nazi-Deutschland, Erfolge vorweisen will. Und anders als im ersten und zweiten Jahr der Invasion dürfte es dafür tatsächlich Stoff von der Front geben.

Mölling und Rácz weisen zudem darauf hin, dass Russland die Zeit nutzen wolle, in der das nächste Rüstungspaket aus den USA noch nicht an der Front zum Einsatz kommt. Dies sei mit ein Grund, weshalb Russland zurzeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die ukrainischen Verteidigungslinien angreife.

Was bewirken die ATACSM-Raketen?

Bleibt die Frage, was das vor Kurzem vom US-Kongress bewilligte Militär-Hilfspaket an der Situation an der Front ändern kann. Die Ukraine setzt besondere Hoffnung auf die Boden-Boden-Raketen des Typs ATACMS. Diese würden es mit ihrer Präzision und einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern ermöglichen, russische Nachschublinien wirkungsvoll anzugreifen, wie das der Ukraine im ersten Kriegsjahr gelungen ist.

Der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, kündigt an, die ATACMS würden viel bewirken, schränkt aber zugleich ein, es gebe keine Wunderwaffe in diesem Krieg.