Wanderpapst Thomas Widmer «Dort sieht es wegen des Galgens aus wie in einem Italowestern»

Bruno Bötschi

18.5.2024

«Sagen wir es klinisch: Ich leider unter einer schweren Wandersucht»: Thomas Widmer, Schweizer Wanderpapst.
«Sagen wir es klinisch: Ich leider unter einer schweren Wandersucht»: Thomas Widmer, Schweizer Wanderpapst.
Bild: Privat

Jede Woche ist Thomas Widmer irgendwo in der Schweiz per pedes unterwegs. Ein Gespräch mit dem Wanderpapst über seine Wandersucht, Schweizer Wunder – und was das alles mit Roger Federer zu tun hat.

Bruno Bötschi

18.5.2024

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Das deutsche Magazin «Der Spiegel» ernannte ihn vor Jahren zum «Schweizer Wanderpapst»: Journalist  Thomas Widmer ist jede Woche irgendwo in unserem Land zu Fuss unterwegs.
  • Mit seinem Buch «Neue Schweizer Wunder» knüpft er an den Bestseller «Schweizer Wunder» von 2016 an: Wieder setzt Widmer auf die kindliche Entdeckerfreude von Gross und Klein.
  • «Ich begann während des Studiums in Bern so ein bisschen zu wandern. Und bekanntlich kommt der Appetit beim Essen. Mit jeder neuen Route ist seither die Liebe gewachsen», sagt Thomas. Widmer im Gespräch mit blue News.

Thomas Widmer, seit wann wirst du von Schweiz Tourismus gesponsert?

Tun sie nicht. Obwohl sie sollten. Frag doch bitte einmal nach, warum. Ich selber kann nicht, es wäre unfein.

Es gibt niemanden, der schönere Text über die Landschaften hierzulande schreibt. Ich finde, Schweiz Tourismus sollte dich unbedingt beim nächsten Werbespot mit Roger Federer auftreten lassen …

Danke vielmals für das Kompliment. Schöne Landschaften haben es verdient, schön beschrieben zu werden. Zu deiner Idee: Mir wäre Martina Hingis noch ein bisschen lieber als Roger Federer. Ich habe seit Langem einen kleinen Crush auf sie.

Woher kommt deine grosse Liebe zu den Schweizer Bergen und Tälern?

Ich begann während des Studiums in Bern so ein bisschen zu wandern. Und bekanntlich kommt der Appetit beim Essen. Mit jeder neuen Route ist seither die Liebe gewachsen. Mittlerweile spürte ich beim Thema «Ausland-Ferien» ein totales Desinteresse. Sagen wir es klinisch: Patient Widmer leidet unter einer schweren Wandersucht.

«Wenn ich grad eine Region benennen müsste, die mich speziell begeistert, dann ist es das Züri Oberland»: Thomas Widmer.
«Wenn ich grad eine Region benennen müsste, die mich speziell begeistert, dann ist es das Züri Oberland»: Thomas Widmer.
Bild: Thomas Widmer

Unternimmst du nach wie vor jeden Samstag, egal ob Sonne, Regen oder Schnee, eine Wanderung mit Freundinnen und Freunden?

Ja. Dieses Jahr haben wir ein spezielles Projekt. Den Jakobsweg Schweiz von Konstanz nach Genf. Immer am Samstag machen wir eine Etappe. Derzeit stehen wir am Brünig. Auf den bisherigen zwölf Etappen haben wir gefühlt 320 Kapellen und Kirchen besichtigt.

Jakobswandern macht mir auch darum so viel Spass, weil ich nicht schuld bin, wenn der Weg zehn Kilometer auf Asphalt verläuft und allen die Füsse wehtun. Wenn die Leute klagen, sage ich ihnen: «Hey, beschwert euch beim Jakobsweg-Kundendienst!»

Was gab den Ausschlag, dass du im Studium zum allerersten Mal losgelaufen bist?

Ich fühlte mich in der Stadt als halber Mensch. Auf dem Land würde es mir vermutlich auch so gehen. Die Kombination von beidem macht mich ganz. Was das Wandern für die Kolumne angeht: Ich war damals bei der «Weltwoche», Christian Seiler, mein Kollege, plante eine Gastrokolumne, wollte sie aber nur alle zwei Wochen bringen. Er fragte mich charmant österreichisch: «Widiwidmer, hast was zum Kolumnieren? Egal, was.» So fing das an.

Dein neuestes Werk heisst «Neue Schweizer Wunder – Ausflüge zu kuriosen und staunenswerten Dingen». Darin finden sich hundert Ausflugsempfehlungen für Gross und Klein. Welche Regionen oder Orte findest du hierzulande am wunderbarsten?

Wenn ich grad eine Region benennen müsste, die mich speziell begeistert, dann ist es das Züri Oberland. Was wäre der reiche, durchgetaktete, sehr, sehr diesseitige Kanton Zürich ohne dieses abseitige, ein wenig rätselhafte, mystische Wunderhinterland mit den schummrigen Töbeln und den windumtosten Hügelkämmen? Und den Nagelfluhbäuchen, über die schüttere Bächli biseln.

Was ist nötig, dass für dich dein Ding oder ein Ort zum Wunder wird?

Das Gefühl, dass ich etwas Wunderbares oder aber Wunderliches vor mir habe. Auf dem Jakobsweg kamen wir vor einigen Wochen in Fischingen im südlichen Thurgau in der Klosterkirche zum Grab der heiligen Idda. Im Grab hat es ein Loch, in das Leute den Fuss stecken.

Wir sahen das und wunderten uns. Angeblich heilt Idda schmerzende oder kranke Füsse. Blöd war, dass mir vor Ort die Füsse nicht wehtaten. So kann ich nicht aus eigener Erfahrung sagen, ob das Loch nützt.

Welches Wunder sollten Roger Federer, seine Frau Mirka und die Kinder demnächst entdecken?

Hey, Federers, fahrt einmal nach Brugg und steigt auf den Bruggerberg. Dort findet ihr an einem Waldbord die Bananenhöhle. Zwei Löcher, ein paar Meter auseinander. Ins eine Loch steigt ihr ein. Beziehungsweise rutscht ihr ein, auf dem Hintern, es geht etwa zwei Meter hinab.

«Hey, Federers, fahrt einmal nach Brugg und steigt auf den Bruggerberg. Dort findet ihr an einem Waldbord die Bananenhöhle»: Thomas Widmer.
«Hey, Federers, fahrt einmal nach Brugg und steigt auf den Bruggerberg. Dort findet ihr an einem Waldbord die Bananenhöhle»: Thomas Widmer.
Bild: Thomas Widmer

Unterirdisch macht die Höhle eine bananenförmige Kurve, die Decke ist tief, Vorsicht auf den Kopf. Durchs andere Loch kommt ihr wieder ans Licht. Das ist ungefährlich und macht der ganzen Familie Spass. Der Tipp gilt natürlich auch für Martina Hingis.

Gibt es auch Wunder in der Schweiz, von denen du niemandem erzählen würdest?

Ja. Wir besuchten vor Längerem ein, sagen wir mal, ökologisches Wunder. Und waren uns einig, dass es sehr verletzlich ist. Ich behielt es für mich.

Was sind die drei wichtigsten Dinge, die dir bei der Suche nach Wundern in der Schweiz klar wurden?

Die Schweiz ist erstens unendlich reich an Spektakeln. Zweitens kennen viele Schweizerinnen und Schweizer diese Spektakel irgendwo im Gelände nicht. Drittens: Diese Erkenntnis machte mir noch klarer, dass mein neues Wunderbuch sinnvoll ist.

Wer kennt ausser den Leuten vor Ort und den Vielwanderern und Vielwanderinnen den Galgen im herzigen Walliser Bergdorf Finnen. Dort sieht es wegen des Galgens aus wie in einem Italowestern. Die Leute von Finnen sind stolz auf das Hinrichtungsgerät von einst. Der Galgen steht dafür, dass sie ihr eigenes Gericht hatten und unabhängig waren vom Adel unten im Rhonetal.

Ein bisschen enttäuscht bin ich von deinem neuen Guide. Und weisst du wieso: In meinem Heimatkanton Thurgau hast du nur drei Wunder gefunden. Was hast du nur gegen die Bodensee-Region?

In meinem neuen Buch hat es ganz genau 103 Wunder. Die Schweiz hat 26 Kantone. Das ergibt pro Kanton ziemlich genau vier Wunder. Okay, ich gebe es zu, der Thurgau ist mit drei Wundern leicht untervertreten, mit Betonung auf leicht. Schade, habe ich das Fischinger Loch erst knapp nach der Abgabe des Buchtextes entdeckt, sonst käme der Thurgau auf vier.

Ich mag den Thurgau auch deshalb sehr, weil er nicht so überlaufen ist wie andere Schweizer Ausflugsziele.

Recht hast du und solltest mir also dankbar sein, dass ich deinen Kanton im Buch leicht untergewichtet habe. So bleibt er weiterhin unterlaufen. Huch, gibt es das Wort überhaupt?

«Auf dem Jakobsweg kamen wir vor einigen Wochen in Fischingen im südlichen Thurgau in der Klosterkirche zum Grab der heiligen Idda. Im Grab hat es ein Loch, in das Leute den Fuss stecken»: Thomas Widmer.
«Auf dem Jakobsweg kamen wir vor einigen Wochen in Fischingen im südlichen Thurgau in der Klosterkirche zum Grab der heiligen Idda. Im Grab hat es ein Loch, in das Leute den Fuss stecken»: Thomas Widmer.
Bild: Thomas Widmer

Ich bin übrigens allen dankbar, die mich auf Wunder aufmerksam machen. Thurgauerinnen und Thurgauer, meldet euch, please! Wenn ihr mir genug Wunder meldet, mache ich ein neues Büchlein nur über euren Kanton.

Am Ende einer Wanderung: Lieber einen Apfel oder einen Nussgipfel essen?

Nussgipfel. Am liebsten frisch aus dem Ofen, der Teig noch leicht feuchtelig. Und die Nussmasse warm und klebrig. Am Bellevue in Zürich nehme ich ein-, zweimal pro Woche auf dem Weg zur Arbeit um 6:45 Uhr im «Belcafe» einen Nussgipfel, der genau so ist. Schon beim Aufstehen freue ich mich auf ihn.

In seinem Lied «Weni mol alt bi» singt Franz Hohler: «Vilicht han i Rheuma, bruuche ne Stock, füehrsch mi dänn am Arm.» Fürchtest du dich davor, einmal nicht mehr wandern gehen zu können?

Wenn ich mal nicht mehr wandern kann und im Altersheim hocke, werde ich die Insassinnen und Insassen im Gemeinschaftsraum regelmässig mit Fotoabenden terrorisieren. Pro Abend werde ich jeweils etwa 150 Wanderaufnahmen zeigen. Vielleicht kann ich so die Sinnkrise abmildern.

«Neue Schweizer Wunder – Ausflüge zu kuriosen und staunenswerten Dingen», Thomas Widmer, 232 Seiten, Echtzeit Verlag, 28 Franken.

Buchvernissage: Mittwoch, 15. Mai, 20 Uhr, im Kaufleuten Zürich.


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