«Gefangen in unbeweglichen Körpern» Warum Wachkoma-Patienten mehr wahrnehmen als gedacht

Von Philipp Dahm

22.1.2022

Fans stehen an Michael Schumachers 45. Geburtstag am 3. Januar 2014 vor dem Centre Hospitalier Universitaire in Grenoble. Der deutsche Rennfahrer war im Dezember 2013 durch schwere Kopfverletzungen nach einem Skiunfall ins Koma gefallen.
Fans stehen an Michael Schumachers 45. Geburtstag am 3. Januar 2014 vor dem Centre Hospitalier Universitaire in Grenoble. Der deutsche Rennfahrer war im Dezember 2013 durch schwere Kopfverletzungen nach einem Skiunfall ins Koma gefallen.
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Bisher gingen Ärzte in der Regel davon aus, dass Patienten im Wachkoma weder ihre Umgebung noch Schmerzen bemerken. Doch ein Forscher bricht nun mit der Vorstellung – und er hat gute Argumente.

Von Philipp Dahm

Das Leben kann sich von einem zum anderen Moment in einer Form ändern, die alles Dagewesene über den Haufen wirft. So wie im Juli 2005, bei einer Frau, die die Wissenschaft Carol nennt.

Carol überquert damals eine belebte Strasse – und wird gleich von zwei Autos erfasst. Die Wucht der Kollisionen verursacht schwere Kopf-Verletzungen, die ihr Gehirn in den Stunden und Tagen nach dem Unfall stark anschwellen lassen.

«Sie überlebte, doch danach führte sie ein ruhiges und stilles Leben im Wachkoma», schreibt Buchautorin Rebecca Schwarzlose. Sie reagiert nicht auf Kommandos, Töne oder die Leute um sie herum. Sie liegt Monat für Monat in ihrem Spital-Bett, ohne auch nur einen Schimmer zu zeigen, dass sie sich ihrer Umgebung bewusst ist.

Keine Reaktion: Einlieferung eines Koma-Patienten.
Keine Reaktion: Einlieferung eines Koma-Patienten.
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«Das Wachkoma wird oft als ‹Wachheit ohne Bewusstsein› beschrieben» erklärt der englische Arzt Adrian Owen. Die Patienten hielten einen Tag-Nacht-Rhythmus ein, ohne jedoch jedwede Stimulation zu reagieren. «Sie sind sowohl da als auch nicht da», fasst er zusammen. Jahrzehntelang habe man angenommen, dass diese Menschen nichts merken und weder wissen, wer, noch wo sie sind.

Blitze im Gehirn

Dass dem nicht so ist, haben Owen und sein Team selbst nachweisen können: Er ist derjenige, der Carol behandelt hat. Einige Monate nach ihrem Unfall schiebt der Arzt sie in den Computer-Tomographen und bittet sie, sich vorzustellen, wie sie Tennis spielt. Das Ergebnis verblüfft nicht nur ihn, sondern die gesamte Fachwelt.

«Erstaunlicherweise ‹blitzte› ein Bereich ihres Gehirns, der Prämotorcortex genannt wird, in genau der gleichen Weise auf, wie er es bei gesunden Leuten tut, wenn sie gebeten werden, sich im Scanner diese Handlungen vorzustellen», erläutert Owen. Die Schlussfolgerung: Carol nimmt sehr wohl wahr, was um sie herum passiert – auch wenn physische Reaktionen wie etwa nur ein Blinzeln unmöglich sind.



Die Experten verfeinern ihre Methode über Jahre, um schliesslich mit einem Opfer zu kommunizieren, der von einem Polizeiauto angefahren worden ist und seit zwölf Jahren im Wachkoma liegt. Der Patient, getauft Scott, kann seine Gehirnaktivität so steuern, dass er dank der Funktionellen Magnetresonanztomographie mit Ja oder Nein antworten kann.

Scott spürt keine Schmerzen

«Scott war in der Lage, uns zu sagen, dass er wusste, wo er war, wie lange er schon da war, was er gerne im Fernsehen schaute und ob er Schmerzen spüren konnte oder nicht – er konnte es nicht», führt Owen aus. «Dennoch blieb Scott am Krankenbett ohne Reaktionen.» Bis zum Jahr 2016 werden rund 1000 weitere Wachkoma-Patienten auf die Art und Weise untersucht, die Owen und sein Team erarbeitet haben.

Das Ergebnis: «Unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass 20 bis 25 Prozent von ihnen wie Carol und Scott sind.» Und das, obwohl sie «trotz ihrer äusseren Erscheinung bei Bewusstsein und gewahr [sind], gefangen in unbeweglichen Körpern, wie sie leise jeder Konversation an ihrem Krankenbett und jeder Entscheidung lauschen, die in ihrem Namen gemacht wird.»

Doch trotz dieser «erstaunlichen Serie von Entdeckungen» sei es immer noch nicht Routine, Patienten mit einer «Störung des Bewusstseins», wie es das Wachkoma ist, routinemässig solchen Untersuchungen zu unterziehen. Zu lange seien die Betroffenen einfach «eingelagert» worden, kritisiert Owen: «Ein unglücklicher Begriff, der gelegentlich genutzt wird, um zu beschreiben, wie jene abgeschrieben werden», erklärt der 54-Jährige.

Und wie ist in der Schweiz? Eine Empfehlung zur Anwendung der funktionellen Kernspin-Tomographie gibt es hierzulande auch nicht. Ob das ein Problem ist und was es für Alternativen gibt, haben wir die Chefärztin einer Schweizer Reha-Klinik gefragt. Das Interview erscheint kommende Woche.